Die Fragilität der Guten Gesellschaft

von Max Molden

Die Verantwortung für das liberale Fundament, für jene Werte, die die Grundlage unseres friedlichen und freien Zusammenlebens – die Gute Gesellschaft – bilden, liegt bei der Zivilgesellschaft. Der Staat kann dieses Fundament nicht garantieren.

Menschliches Zusammenleben ohne Moral scheint kaum vorstellbar. Würden wir immer lügen, trügen und rücksichtslos unseren eigenen Vorteil suchen, könnten wir kaum erfolgreich kooperieren und zusammenleben. Niemand würde mit uns tauschen, wenn er erwarten müsste, dass wir ihn hinterrücks um die Ecke bringen, sobald er uns den Rücken zugekehrt hat – auch dann nicht, wenn Betrug, Irreführung und so weiter gesetzlich verboten wären. Das Recht würde allein schon deswegen nicht ausreichen, weil ohne moralische Einschränkungen nicht vorstellbar ist, dass Richter im Sinne des Rechts entscheiden und Polizisten im Sinne der richterlichen Entscheidungen vollstrecken würden.

Aus praktischen Gründen also müssen wir uns alle, zumindest zu einem gewissen Grad, moralisch verhalten, damit ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Das ist umso wichtiger, wenn wir nicht nur irgendwie, sondern in einem liberalen Gemeinwesen miteinander leben wollen. Aus diesem Grund schrieb der Philosoph Michael Polanyi:

The general foundations of coherence and freedom in society may be regarded as secure to the extent to which men uphold their belief in the reality of truth, justice, charity and tolerance, and accept dedication to the service of these realities; while society may be expected to disintegrate and fall into servitude when men deny, explain away, or simply disregard these realities and transcendent obligations.

Zwei der Dinge, die Polanyi betont, sind Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese müssen wir besonders wertschätzen, daran glauben, dass es sie gibt und sie Bedeutung haben, sich ihnen verpflichtet fühlen. Glauben wir das nicht, dann drohen wir in einen Nihilismus zu verfallen, in dem alles nichtig und alles erlaubt ist. Dieser Nihilismus vermag unsere „moralischen Leidenschaften“ (Polanyi) nicht zu vernichten, aber er setzt sie insofern frei, als dass es keinen Rahmen mehr gibt, der unsere Handlungen durch moralische Regeln eingrenzt. Damit verlieren wir unseren moralischen Kompass und sind verleitet, solche Maximen wie „der Zweck heiligt die Mittel“ zu vertreten. Diese aber sind mit einer liberalen Gesellschaft nicht vereinbar. Denn sie geben demjenigen, der sich auserkoren sieht, der denkt, er besäße besondere Weisheit, die grenzenlose Macht, andere zu ihrem Glück zu zwingen oder die Gesellschaft, egal, was die unwissenden Bürger meinen, in eine wahre Utopie zu verwandeln. Das aber ist Einfallstor für Autoritarismus und gar Totalitarismus.

Um frei und friedlich zusammenzuleben sind wir darauf angewiesen, dass jeder von uns sich moralisch verhält, daran glaubt, dass es wahr und falsch gibt, dass es richtig ist, gerecht zu handeln, andere gut zu behandeln und tolerant zu sein – insbesondere dann, wenn andere nicht so leben, wie wir es für richtig halten. Angesichts der Notwendigkeit einer grundlegenden Moralität für ein friedliches und freies Zusammenleben drängt sich die Frage auf, ob der Staat als Wertebewahrer eingreifen sollte. Sollte es beispielsweise öffentliche Bildung geben, welche derartige Werte fördert und schützt? Sollte es Einrichtungen geben, die sich mit politischer Bildung befassen?

In Zeiten, in denen manche unserer Mitmenschen sich der Wahrheit nicht verpflichtet fühlen oder gar ihre Existenz abstreiten, barbarische Schreckenstaten gutheißen und jegliches Mitgefühl für ihre Mitmenschen verloren haben, mag das attraktiv erscheinen. Der Staat mit seiner großen Macht könnte just die Instanz sein, die jene Werte schützt, die das Fundament des liberalen Gemeinwesens bilden.

Doch Macht geht nicht notwendigerweise mit Weisheit einher. Die Frage ist aber gerade, wie die Werte unserer Zivilisation effektiv geschützt werden können. Hierauf haben die staatlichen Akteure aber womöglich gar keine Antwort. Und der Staat als monozentrisch aufgebaute Einrichtung ist auch nicht gut geeignet, Antworten zu finden.

Viel gefährlicher ist aber die große Macht, die dem Staat notwendigerweise gewährt werden muss, wenn er Werte schützen und bewahren soll. Diesen Handlungsspielraum können Akteure nutzen, um ganz anderes zu befördern. So ist es kein Zufall, dass Ideologien wie der Nationalsozialismus die komplette Kontrolle über die Bildung als essenziell ansahen – mit dem Ziel, die Schüler im nationalsozialistischen Sinne zu erziehen.

Der Staat ist also praktisch nicht die Lösung für den Erfolg der liberalen Gesellschaft. Dabei ist beim staatlichen Handeln und damit auch der Wertevermittlung sowieso die Legitimität entscheidend. Selbst wenn der Staat in der Lage und gewillt wäre, die Werte, die das Fundament einer freien Gesellschaft bilden, zu schützen, würde nicht folgen, dass er legitimiert wäre, dies zu tun. Die Frage im Politischen ist aber die der Legitimität: Zu welchen Zwecken darf Zwang eingesetzt werden? Nun ist der Quell der Legitimität die Zustimmung, und eine derartige Zustimmung, der Staat möge mit Zwang den Bürgern Werte vermitteln, erscheint absurd.

Mit Böckenförde ist es vielmehr so, dass der liberale Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Denn in dem Moment, in dem er versuchte, diese Voraussetzungen zu garantieren, würde er seine Liberalität aufgeben. Er würde ja gerade den Menschen die Werte, nach denen sie zu leben haben, vorschreiben. Die Verantwortung für das liberale Fundament, für jene Werte, die die Grundlage unseres friedlichen und freien Zusammenlebens bilden, liegt also bei uns. Es ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit und Toleranz einzutreten. Eine Aufgabe, die nicht einfach ist, aber die jede Generation neu bewältigen muss, um jedem Menschen die Chance zu schenken, ein gutes Leben zu führen. Denn dies geht nur gemeinsam, in einer Guten Gesellschaft.

Dieser Beitrag erschien zuerst im freiraum #80 (04/2023), dem Magazin des Verbands der Stipendiaten und Altstipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (VSA). Er wird hier mit freundlicher Genehmigung mit leichten Korrekturen erneut veröffentlicht. Der Beitrag spiegelt die Meinung des Autors, nicht notwendigerweise jene der Organisation wider. Dieser Blog bietet eine Plattform für unterschiedliche liberale Ideen. Du möchtest auch einen Artikel beisteuern? Schreib uns einfach eine Mail: redaktion@derfreydenker.de!

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