Von ewig gleichen Fragen: Über die vermeintliche Einzigartigkeit unserer Zeit

von Max Molden

Weder leben wir in besonderen noch in außergewöhnlich herausfordernden Zeiten. Die Probleme wiederholen sich, und die grundlegenden Argumente für und wider Staat und Markt sind ebenfalls altbekannt.

Die Überzeugung, wir würden in besonderen, gar prekären Zeiten leben, ist weit verbreitet. Mit ihr verbunden ist die Idee, dass unsere Zeit neue Antworten benötigt – alles müsse neu beleuchtet werden. Vor allem das Verhältnis von Politik und Wirtschaft müsse gemäß dieser Logik für diese unsere Zeit dann neu ergründet werden. Das ist nicht nur falsch, es ist sogar verwegen. Womöglich entspringt diese Auffassung dem dem Menschen eigenen Gefühl, er sei besonders – vielleicht ist diese Überzeugung aber auch lediglich das Resultat des Eigeninteresses einiger Intellektueller, die ihr Dasein begründen müssen.

Besondere Zeiten?

Tatsächlich leben wir nicht in besonderen Zeiten – zumindest nicht in besonders schlechten oder herausfordernden Zeiten. Besonders mag der Umstand sein, welch ungeheuren Wohlstand die Welt in den letzten 200 Jahren geschaffen hat. Kaum eine Generation von Menschen hatte so gute Lebenschancen wie jene, die im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts geboren werden. Das heißt nicht, dass alles rosig ist. Aber es rückt die derzeitigen Ereignisse wie den russischen Angriffskrieg, den Terror der Hamas mitsamt des entspringenden Krieges oder das sich verändernde Klima in ein rechtes Licht. Denn während vor einigen Jahrhunderten noch jedes zweite Kind den Kindstod starb, ist die Kindersterblichkeit heute so niedrig, dass sie gar nicht mehr diskutiert wird. Während vor 200 Jahren die Mehrzahl der Menschen in extremer Armut lebte, ist es heute ein Zehntel – bei einer deutlich größeren Bevölkerung. Und während vor vielen Dekaden große Kriege die Welt verwüsteten, geht die Anzahl derer, die infolge kriegerischer Auseinandersetzungen sterben, zurück.

Mitnichten ist ein nüchterner Blick auf die Vergangenheit – fern und nah – ein Grund für Entspannung. Der Blick in die Vergangenheit schafft aber Kontext und erzeugt Demut, sich und die eigene Zeit nicht für zu wichtig zu nehmen. Und zu erkennen, welch Glück es ist, heute leben zu dürfen.

Wiederkehrende Fragen: wie zusammenleben?

Aber natürlich stehen wir Menschen des 21. Jahrhunderts vor den immer wiederkehrenden,  großen Fragen nach dem gesellschaftlichen Zusammenleben. Es sind die gleichen Fragen, die sich auch jene stellen mussten, die 100 oder 200 Jahre vor uns geboren wurden. Und wir müssen diese Fragen natürlich erneut, für uns, beantworten. Aber für die Beantwortung muss das Verhältnis vom Einzelnen zum Staat nicht neu ergründet und bestimmt werden. Sowohl die Herausforderungen als auch die Antworten sind im Wesentlichen die gleichen wie vor 50, vor 100 oder vor 200 Jahren – während wir noch einiges mehr an Erfahrung gewonnen haben. Das Ende der Geschichte, wie der oft missverstandene Francis Fukuyama schrieb, ist erreicht. Es mag im Kampf um die Freiheit des Einzelnen vor der illegitimen Machtausübung anderer ein stetes Auf und Ab geben. Aber dass das liberale System den heiligen Gral für das menschliche Zusammenleben darstellt, ist unumstößlich.

Es ist nun etwa 250 Jahre her, dass der US-amerikanische Founding Father James Madison davon sprach, dass wir den Staat ja nur deshalb benötigen, weil wir Menschen keine Engel sind. Eben weil wir Menschen aber keine Engel sind, stellt sich für jede Gesellschaft das große Problem, wie man jene, die die Macht in den Händen halten, – diese sind ja notwendig, weil wir Menschen keine Engel sind – davon abhält, ihre Macht zu missbrauchen. Übrigens ein Problem, welches nicht deswegen erlischt, weil die Macht nicht mehr in der Hand eines Monarchen, sondern einer Mehrheit liegt. Das Problem des Eigeninteresses der Herrschenden oder anders gesagt: wie man den Herrscher dazu bringt, ausschließlich das zu tun, wozu er von den Bürgern mandatiert wurde, mag man heute im Jargon der Public-Choice-Theorie ein Problem der Motivation, das eng verbunden mit Anreizen ist, nennen. Es ist aber ein ganz altes – eines, mit dem Denker, wie auch Gestalter, seit Urzeiten kämpfen mit Mitteln wie der Gewaltenteilung, einer niedergeschriebenen Verfassung oder dem Ausspielen des Machtstrebens der Eliten, die sich gegenseitig kontrollieren und einschränken sollen.

Genauso verhält es sich mit dem anderen großen gesellschaftlichen Problem: der Weisheit oder des Wissens der Herrschenden, die die Bürger zu ihrem Glück zwingen wollen. Dies geschieht zumeist unter der Annahme, die Menschen seien ja nun gerade nicht, oder zumindest nicht immer, in der Lage, ihre wahren Interessen zu erkennen oder zumindest jene Mittel zu ergreifen, die notwendig sind, um ihre wahren Interessen zu befriedigen. Gerade diese Überzeugung ist es, deretwegen manche sich bemüßigt fühlen, die „irrationalen“ Akte des gemeinen Bürgers, die vielleicht von „animal spirits“ getrieben sind (Akerlof und Shiller, die wieder bloß eine alte Idee, und zwar jene John Maynard Keynes‘, neu verwenden) durch staatliche Eingriffe korrigieren zu lassen. Der Staat als Optimierer der Konjunkturzyklen! Der Staat als Helfer gegen Trittbrettfahrertum! Der Staat als Beschützer vor Monopolen oder unlauteren Wettbewerbspraktiken!

Der Staat gar als Ein-Mann-Planer der Wirtschaft? Aber auch hier ist die Debatte eine alte. Vor etwas mehr als 100 Jahren wurde sie im Zuge der Wirtschaftsrechnungsdebatte mit neuem Leben gefüllt. Bis dato ist das dort aufgekommene Wissensproblem für den Wirtschaftsplaner, sei es das der kompletten Planung der Wirtschaft oder „nur“ jenes der teilweisen Planung, wie bei der Glättung von Konjunkturzyklen, unüberwindbar.

Eliten und ihre Hybris

Der Glaube, eine selbsternannte Elite sei in der Lage, die so komplexe und sich ständig verändernde Wirtschaft zu optimieren oder gar komplett zu planen, ist von einer derartigen Hybris geprägt, dass es einem den Atem verschlägt. Es mutet bizarr an, wie jene, deren Prognosen sich stets als falsch erweisen, deren Projekte zu Milliardengräbern werden, die kurz vor der größten Wirtschaftskrise ausriefen, es sei alles in Ordnung (die spätere FED-Präsidentin und Finanzministerin Janet Yellen gratulierte 2006 dem scheidenden FED-Präsidenten Alan Greenspan und befand, “it’s fitting for Chairman Greenspan to leave office with the economy in such solid shape” ernsthaft glauben können, sie besäßen jemals das notwendige Wissen, um ihre wohlwollenden Intentionen zum Vorteil der Bürger einzusetzen.

Und während man heute das Desaster der deutschen Energiepolitik, des Klimaschutzes oder der Wohnungspolitik betrachtet, zeigt sich hier nichts, was nicht schon durch vorherige Erfahrung und theoretische Ergründung klar gewesen ist: je mehr Bereiche des alltäglichen Lebens der Staat an sich reißt, desto schlimmer wird es. Nun mag es sicher Grenzfälle geben, in denen man das Für und Wider staatlicher Eingriffe diskutieren kann. Aber dies sind nun eben: Grenzfälle. Diese Grenzfälle ändern nichts an der allgemeinen Devise, wonach wir Menschen selbst – du und ich – am besten wissen, was wir tun sollten. Und auf Basis dieser grundsätzlichen Einsicht sollte sich das Verhältnis von Wirtschaft und Politik ziemlich eindeutig bestimmen lassen. Was es braucht, ist einen starken Staat, der sich auf die Grundlagen beschränkt.

An dieser Stelle gerät jedoch eine andere Erwägung ins Blickfeld. Denn in Wahrheit ist schon der Glaube, die eigene überlegene Weisheit oder Moralität legitimiere einen, andere zu zwingen, ein schrecklicher Irrweg. Wieso sollte irgendjemand einen anderen beherrschen dürfen? Weil er von Gott auserwählt wurde? Weil sie der felsenfesten Überzeugung ist, dass sie viel weiser ist als wir Untertanen? Weil er glaubt, dass nur er die perfekte Moral bzw. die Wahrheit kennt und in die Tat umsetzt? Nichts dergleichen! Die einzige Art und Weise, wie Herrschaft legitimiert werden kann, ist die Zustimmung der Beherrschten. Nicht weil der eine sich für den weisesten Mann hält, nicht weil die andere die wahre Gerechtigkeit zu erblicken glaubt und nun verwirklichen will, sondern weil wir der Herrschaft zustimmen, ist diese Herrschaft legitim. Diese Einsicht von Hobbes und Locke sollte jedem einleuchten, der sich nicht im Glauben an die eigene moralische Überlegenheit und Weisheit suhlt und, davon verblendet, sich und seinesgleichen das Recht herausnimmt, andere nach eigenem Gutdünken zu zwingen.

Eine Aufgabe für jede Generation

Wenn es um die Frage des Austarierens von Individuum und Staat, von Politik und Wirtschaft geht, sind diese alten Einsichten einschlägig. Sie sind nicht neu. Sie müssen aber von jeder Generation neu erkannt und vor allem umgesetzt werden. Es ist ein Kampf zwischen dem Freiheitswillen der Bürger und dem Verlangen mancher, illegitimen Zwang auszuüben bzw. der Versuchung mancher, sich selbst zu Höherem berufen zu sehen, nämlich dem Sirenenruf der Macht. Und während die Anwendung dieser ewigen Prinzipien für jede Zeit neu gedacht und gemacht werden muss, so sind die dem liberalen Staat zugrunde liegenden Prinzipien eben: ewig. Sie ändern sich nicht. Sie verlangen keine neue Antwort auf die Frage, wie viel man dem Markt, also uns allen, „überlassen“ sollte und wie viel Macht einzelne Bürger, die den Staat bilden, an sich reißen sollten.

Der Staat sollte liberal sein, sprich, sich auf die Durchsetzung jener Regeln konzentrieren, ohne die ein friedliches Zusammenleben unmöglich ist und die just daher allgemeine Zustimmung beanspruchen können. Damit ist ein Fokus auf die Sicherstellung der Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung gemeint, durch den der Staat übrigens auch Stärke gewinnt, da er nicht länger Spielball von Partikularinteressen ist. Darüber hinaus gibt es nichts, was „der Staat“, womit natürlich eine Gruppe von Menschen gemeint ist, tun sollte. Dafür muss freilich die Fiktion des wohlwollenden und allwissenden Staates aufgegeben werden. Die Eliten, die den Staat ausmachen, sind Menschen, genau wie wir. Sie haben keinen Zugang zu besonderem Wissen, und genauso wenig sind sie in den Brunnen der Wohltätigkeit gefallen. Verabschiedet man sich von der Illusion, wonach es eine Elite mit höherer Weisheit und Moral gibt, ist eindeutig, dass eine Rückkehr zu einer sozialen Marktwirtschaft notwendig ist. Natürlich eine soziale Marktwirtschaft, die, wie Ludwig Erhard betonte, deswegen sozial ist, weil sie frei ist.1 Sie muss nicht erst durch den Staat sozial gemacht werden. Im Gegenteil führen ein derartiges Denken und entsprechende Staatseingriffe gerade zur Unterminierung des Sozialen, zu Wohnungsmangel, der für die Ärmsten am härtesten ist, zu hohen Energiepreisen, deren Hauptleidtragenden wiederum die Schwächsten der Gesellschaft sind, zu Günstlingspolitik wie dem Industriestrompreis, der die gut vernetzten großen Unternehmer auf Kosten der kleinen und mittelständischen Unternehmen bevorteilt.

Was bereits vor 200 und 50 Jahren galt, muss auch heute gelten. Die Legitimität des Staates entspringt der Zustimmung seiner Bürger, und Zustimmung meint nicht, dass es einen Mehrheitsentscheid gibt. Die Mehrheit hat keine besondere Dignität, im Gegensatz zum Konsens. Und nicht nur ist nur solch ein Staat legitim, bei dem wir allgemeine Zustimmung erwarten können. Solch ein Staat, der naturgemäß ein durch und durch liberaler sein wird, wird mit seiner sozialen qua freien Marktwirtschaft auch bestmöglich mit den omnipräsenten Wissens- und Anreizproblemen umgehen können. Von der Fiktion einer wohlwollenden und allwissenden Elite befreit zeigt sich, dass der stete Kampf um die Freiheit des Einzelnen keine neuen Antworten braucht. Er braucht nur die Demut der Menschen, sich damit zu begnügen, in gegenseitiger Toleranz miteinander zu leben – und ihre Verve, dafür zu kämpfen, dass niemand sich aufschwingt,  andere zu ihrem Glück zu zwingen. Friedrich der Große sagte einst, dass jeder nach seiner Façon selig werden soll. Heute wie gestern sollte das als Maxime gelten, nach der unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Sie führt zu einem durch und durch liberalen Staat – unser gesellschaftliches Idealbild gestern wie heute und auch für die Zukunft.


1 Hayek schreibt in The Fatal Conceit (1990, S. 117): “[Erhard] once assured me in conversation that to him the market economy did not have to be made social but was so already as a result of its origin.”

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1 Kommentare

Max Brauer 23. Januar 2024 - 22:28

Ein sehr aufschlussreicher gut ausgeführter Artikel, welcher wirklich den Zeitgeist trifft und zum nachdenken anregt. Weiter so!

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