In den Händen einiger Intellektueller wurde die Demokratie zu ihrem Gegenteil verkehrt. In der Ideologie des Demokratismus ist irrelevant, was die Wähler wollen. Eine Rezension des Buches The Ideology of Democratism von Emily B. Finley.
Versucht man die politischen Bewegungen und die grundlegenden Überzeugungen der heutigen Zeit zu verstehen, stößt man schnell auf den weit verbreiteten Vorwurf, manche Parteien oder Politiker seien „undemokratisch“. Verbunden damit ist der Aufruf, man müsse die Demokratie verteidigen.
Was auf den ersten Blick einleuchten mag, wirft bei näherem Hinsehen Fragen auf. Denn wenn Demokratie – Pi mal Daumen – bedeutet, dass das Volk mittels Mehrheitswahlen entscheidet, dann klingt das bizarr. Wie soll es möglich sein, ein System, das sich durch Mehrheitsentscheidungen auszeichnet, vor just diesen Mehrheitsentscheidungen zu schützen? Wenn die Mehrheit, oder zumindest eine große Zahl, diesen einen Politiker oder diese eine Partei wählt, dann ist doch genau das demokratisch?!
Zugespitzt: kann das, was die Menschen in großer Zahl wollen, undemokratisch sein? Dieser Frage spürt Emily B. Finley in ihrem 2022 erschienenen Buch The Ideology of Democratism nach. Finley versucht dieses irritierende Phänomen mit dem Begriff des Demokratismus zu fassen. Diese Ideologie beherrsche den Westen in der heutigen Zeit, habe aber effektiv nichts mehr mit Demokratie im eigentümlichen Sinne zu tun, so Finley.
Die entscheidende Zutat des Demokratismus ist laut Finley der „volonté générale“, der, von Rousseau bekannt gemacht, in Wahrheit eine säkularisierte Fassung eines ursprünglich theologischen Konzeptes sei. Dieser Gemeinwille, so die Idee, existiere vollständig – und zwar wirklich vollständig – unabhängig von dem, was die Menschen wollen. Finley schreibt:
One of the persistent elements of democratist thinking is the belief that the people’s will exists as an ideal that supersedes the people’s actual, historically manifest will and that the philosopher can discern the true will and devise a way to implement it politically.
Konkret heißt das, dass es faktisch gleich ist, was oder wen die Menschen nun wirklich wählen. Denn es gibt einen Gemeinwillen, und dieser ist einzig und allein maßgebend. Anders gesagt gibt es einen richtigen Willen, den die Menschen eigentlich wollen oder zumindest wollen sollten – auch wenn ihre Handlungen etwas anderes zeigen.
Und so wird klar, wieso das, was die Bürgerinnen und Bürger wollen, undemokratisch sein kann. Denn was demokratisch ist und was nicht, hängt nicht vom Wählerwillen an sich ab, sondern von dem mystischen, über den Menschen schwebenden Gemeinwillen. Demokratisch ist es dann, den Gemeinwillen zu verwirklichen, auch wenn der Wählerwille, der sich an der Urne zeigt, nicht mit dem Gemeinwillen übereinstimmt.
Finley ist damit in der Lage, eine überzeugende und bestechende Erklärung der Phänomene unserer Zeit zu liefern. Und sie beschreibt auch die Gefahren, die hinter dieser Ideologie stecken. Denn die Idee eines „volonté générale“ ist eng verbunden mit einem extremen Elitismus, muss doch der Gemeinwille entdeckt und gewusst werden. Und dazu in der Lage ist natürlich nur eine selbsternannte Elite. Und diese Elite ist in der Ideologie des Demokratismus dann auch legitimiert, jene Bürger, die nicht verstehen, was sie eigentlich wollen, zu ihrem Glück zu erziehen und zu zwingen. Und genau deswegen ist es für sogenannte Demokratisten nicht undemokratisch, gegen das zu handeln, was die Menschen wollen. Eine drohende Tyrannei, die mit dem Verweis auf ihr demokratisch-sein legitimiert wird.
But perhaps the most telling attribute of democratism is its more or less hidden elitism – the belief of democratists that they possess special knowledge about the true way to conduct politics and can speak authoritatively about how to transform society. Supremely confident in their own interpretation of Right, democratists do not hesitate to make sweeping proclamations about the ways in which society must change. In this philosophy are all of the seeds of modern, democratic tyranny.
Finleys 232 Seiten umfassendes Buch hätte sowohl von einem stärkeren Fokus auf die Ausarbeitung der Feinheiten der Ideologie des Demokratismus als auch von einer detaillierteren Auseinandersetzung mit heutigen Manifestationen des Demokratismus profitiert. Die Ausführungen zum Demokratismus von historischen Persönlichkeiten wie dem Founding Father Thomas Jefferson oder dem US-Präsidenten Woodrow Wilson sowie die Analyse des katholischen Denkers Jacques Maritain sind für den an der Ideologie des Demokratismus im Hier und Jetzt Interessierten lediglich von sekundärer Bedeutung. Auch hätte der Aufbau des Buches nach inhaltlichen Erwägungen die theoretische Wucht der Überlegungen Finleys besser zur Geltung kommen lassen.
Nichtsdestotrotz ist der US-amerikanischen Denkerin mit ihrem Erstling ein großer Wurf gelungen. Nicht nur ist die Ideologie des Demokratismus eine wirkmächtige Erklärung der politischen Phänomene unserer Zeit. Das Werk ist auch eine dringend notwendige Warnung vor dem überbordenden Elitismus einer intellektuellen Klasse, die sich mehr und mehr von dem der westlichen Welt zugrundeliegenden Liberalismus entfernt.
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2 Kommentare
Ich denke, dass an diesem Phänomen des „Demokratismus“ etwas dran ist. Ich glaube, dass auch der Herrschaftsrechtfertigung der Nationalsozialisten ein solcher „Demokratismus“ zugrunde lag in Form der Berufung auf das „gesunde Volksempfinden“. Was ich aber nicht erkennen kann, ist, dass eine „echte“ Demokratie, sofern sie den Menschen aufgezwungen wird, notwendig besser wäre. Ob mir nun der Wille der Mehrheit der Bevölkerung zwangsweise aufgedrückt wird oder der einer „Elite“, die ihren Willen fälschlich als „Volkswillen“ bezeichnet, ist doch egal – Zwang bleibt Zwang.
Danke für Deinen Beitrag! Die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit besteht natürlich, wenn Mehrheiten einfach entscheiden können. Ich denke, Demokratismus und diese Gefahr der Tyrannei der Mehrheit sind einfach beides problematische Phänomene, mit ihren jeweiligen Eigentümlichkeiten. LG Max