Konservatismus gleich Rechtssozialismus?

von Nicolas S. Straehl

Was bedeutet es eigentlich, rechts zu sein? Die einzige Unterscheidung, die sich heute als kohärent und damit als wirklich nützlich erweist, um die Werte der politischen Rechten zu definieren, ist der Kapitalismus, so wie es der Sozialismus für die Linke ist, meint Nicolas S. Straehl.

1. Einführung

Im alltäglichen, politischen Verständnis wird “Konservatismus” gemeinhin mit einer rechten und damit (pro-)kapitalistischen ideologischen Ausrichtung assoziiert. Diesem wird üblicherweise der “Progressivismus” gegenübergestellt, der für eine linke und damit (pro-)sozialistische ideologische Ausrichtung steht. In den Nachrichten, zumindest im Westen, hören wir oft von strengen, rechten Politikern, die sich einerseits an Traditionen, die Familie und die Grenzen ihrer Nation und Religion gebunden fühlen und andererseits der Einwanderung (insbesondere der illegalen), dem sozialen Fortschritt, der Säkularisierung und manchmal, wie im Fall der Covid-19-Pandemie, der Wissenschaft skeptisch gegenüberstehen. Linke Politiker hingegen werden als Politiker beschrieben, die der Gleichheit, der Meinungsfreiheit und dem Umweltschutz verpflichtet sind und Diskriminierung ablehnen. Nicht zuletzt würden sie säkulare wissenschaftliche Perspektiven einnehmen und daher jede Art von religiösem Dogmatismus ablehnen. Was diesen Charakterisierungen fehlt, ist eine solide Beschreibung der wirtschaftlichen Positionen beider Lager: Ausgehend von ihren egalitären Bestrebungen sind die Progressiven im sozialen Bereich dafür bekannt, dass sie die Arbeiter bzw. die weniger wohlhabenden Schichten unterstützen wollen. Sie befürworten daher Wohlfahrtsprogramme, die den Reichtum einer Nation gerechter verteilen sollen. Was genau wollen aber die Konservativen im Bereich der Wirtschaft? 

2. Eine konservative Wirtschaft

Die Forderungen der Konservativen werden oft als allgemeine Steuererleichterungen für die Superreichen abgetan und daher tendenziell als kapitalistisch eingestuft. Zwar gibt es viele konservative Parteien, deren politische Programme auf die Interessen der multinationalen Konzerne ausgerichtet sind; doch haben wir es hierbei nicht mit einem wirklich charakteristischen Merkmal zu tun: Selbst Mitte-Links-Parteien fördern und verwirklichen (mehr oder weniger verschleierte) korporatistische Reformen (vgl. die Demokratische Partei der USA und ihre langjährigen Beziehungen zur Kriegsindustrie). Der im einleitenden Absatz skizzierte ideologische Schematismus gerät daher ins Wanken: Wenn die Progressiven, die häufig eine auf die monopolistischen Interessen der Konzerne ausgerichtete Politik vertreten, links sind, d. h. zum Sozialismus tendieren, warum werden dann die Konservativen als rechts und damit als zum Kapitalismus tendierend definiert, wenn sie doch in ähnlicher Weise vorgehen? 

Sicher ist, dass die Konservativen im Allgemeinen für systematische Steuersenkungen eintreten und dabei stolz auf diese ideologische, d. h. antisozialistische Bedeutung verweisen. Eine wirksame und vollständige Senkung der Steuerlast ist jedoch selten zu beobachten: Die Finanzierung des Militärs, der Protektionismus zur Bekämpfung der unkontrollierten Einwanderung und die Subventionen zur Verhinderung des Zerfalls der Kernfamilie, die zugleich Anreize für das Bevölkerungswachstum einer Nation schaffen, vereiteln letztlich den ursprünglichen, sicherlich kapitalistischen Zweck der Steuersenkung. Dies liegt daran, dass die philosophische Matrix des Konservatismus nicht – wie wir glauben – individualistisch (und damit nicht auf die Freiheit des Einzelnen in symbiotischer Beziehung mit der sozioökonomischen Doktrin des freien Marktes) ausgerichtet ist, sondern im Wesentlichen national-traditionalistisch ist. 

Dies lässt sich leicht beweisen, wenn man wichtige internationale Politiker beobachtet (vgl. Marine Le Pen, Giorgia Meloni, Viktor Orbán), die sich zwar als ultrakonservative Politiker definieren (oder so definiert werden), sich aber nicht als ultrakapitalistische Politiker profilieren. Im Gegenteil: Aus wirtschaftlicher Sicht ist die von ihnen vorgeschlagene Gesetzgebung als eine mehr oder weniger streng geplante Neuordnung des Marktes einzuschätzen (vgl. Le Pens Widerstand gegen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Orbáns Preiskontrollen, Umweltsteuern und die von Meloni vorgeschlagenen Subventionen für das so genannte “Made in Italy”). Die klassische Definition des Konservatismus weist somit eine logische Inkonsistenz auf: Die soziopolitische Ebene (religiös und nationalistisch, d. h. kollektivistisch) konfligiert, sofern sie konsequent verfolgt wird, mit der wirtschaftlichen Ebene (kapitalistisch, d. h. individualistisch). Dieser Umstand weist darauf hin, dass die beiden Ebenen im Verhältnis zueinander verzögert, phasenverschoben sind, und sich – in ihrer ideologischen Flugbahn – nicht parallel bewegen.

3. Negative Definitionen

Warum also neigen wir, wenn wir über konservative Politiker sprechen, immer noch dazu, sie als rechts und damit als Kapitalisten zu bezeichnen? Im Endeffekt sind sie nicht viel kapitalistischer als die Progressiven (zumindest im Allgemeinen; in einigen Fällen sind sie sogar sozialistischer als die Progressiven, siehe Marine Le Pen). Wir haben Grund zu der Annahme, dass ihre steuerlichen Positionen a priori relationalen Grundsätzen folgen. Die Argumentation lautet: Wenn die Konservativen die Feinde der Progressiven sind, und wenn die Progressiven (Pro-)Sozialisten sind, dann müssen die Konservativen zwangsläufig das Gegenteil der Sozialisten sein, nämlich Kapitalisten. Kurz gesagt, die fiskalpolitische Position der Konservativen leitet sich aus einer falschen Dichotomie ab, aus einer binär-oppositionellen Abgrenzung gegenüber den Progressiven, die als Kern, als ideologisch intakter und konsistenter Dreh- und Angelpunkt dieses Syllogismus konfiguriert sind. Dies ist sicherlich auf ein kulturelles Klima zurückzuführen, das vor allem bei jungen Menschen den Progressivismus als hegemoniale Ideologie in den Mittelpunkt jeder politischen Diskussion stellt (vgl. akademische Lehrpläne, insbesondere in den Geisteswissenschaften) und dessen Verbreitung und konzeptionelle Verankerung durch ein dichtes Mediennetz erleichtert. Wir glauben jedoch, dass dies auch auf die politische Botschaft der Konservativen selbst zurückzuführen ist: Um den Progressiven als eindeutiger Antagonismus entgegenzutreten, ist es so, als ob sie eine immerwährende alternative ideologische Identität konstruieren würden (vgl. den Namen der deutschen Partei Alternative für Deutschland), was sehr oft zu einem populistischen Transformismus führt (vgl. die Kritik der AfD an Angela Merkel und ihrem übermäßig strengen Umgang mit der Covid-19-Pandemie in den Anfangstagen; Kritik, die sich dann vollständig in einen einseitigen und übertriebenen libertären Kampf verwandelte, als die Impfstoffe gegen Ende der Pandemie zum Hauptinstrument einer autoritären Politik wurden).

4. Rechts sein

Aber was bedeutet es dann, rechts zu sein? Zumindest in den Augen der heutigen Öffentlichkeit scheint, rechts zu sein einfach zu bedeuten, gegen die Linke zu sein, und somit 1.) nationalistisch und traditionalistisch und 2.) mehr oder weniger kapitalistisch zu sein. Bei näherer Betrachtung sind Nationalismus und Traditionalismus jedoch auch Werte, die von vielen linken politischen Randgruppen vertreten werden: Trotz des marxistischen Internationalismus verschmolz Stalin selbst, nachdem er der neue Führer der UdSSR geworden war, die kommunistische Ideologie mit einem gewalttätigen (in vielerlei Hinsicht sogar antisemitischen) Patriotismus, in Übereinstimmung mit der Doktrin des so genannten „Sozialismus in einem Land“ aber im Gegensatz zu den Ansichten seines Rivalen Trotzki, und gab so der Hymne der internationalen Arbeiterbewegung einen ausschließlich russozentrischen Klang. Auch Fidel Castro, Mao und Chavez vertraten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern ein nationalistisches politisches Programm mit dem revolutionären Ziel, den ausländischen kapitalistischen Imperialismus zu bekämpfen. Was den Traditionalismus betrifft, so sei an Pier Paolo Pasolini erinnert, einen führenden marxistischen Intellektuellen im Italien des 20. Jahrhunderts, der, obwohl er ein glühender Antikleriker war, in der armen frühchristlichen bäuerlichen Gesellschaft eine ursprüngliche moralische Reinheit sah, die nun durch die konsumistische kulturelle Homologation des Neokapitalismus ausgehöhlt und verschmutzt wurde. 

Die einzige Unterscheidung, die sich heute als kohärent und damit als wirklich nützlich erweist, um die Werte der politischen Rechten zu definieren, ist der Kapitalismus, so wie es der Sozialismus für die Linke ist: Wir können nicht zwei verschiedene Logiken verwenden, wenn wir definieren wollen, was die Rechte und was die Linke in der Politik ausmacht. Wenn wir davon ausgehen, dass Ernesto „Che“ Guevara aufgrund seiner wirtschaftlichen Positionen und nicht aufgrund seiner sozialen Ansichten linksradikal war (vgl. seinen Rassismus gegen Schwarze und seine Verfolgung von Homosexuellen), dann müssen wir solche Parameter auch bei der Beschreibung der heutigen (und früheren) konservativen Politiker anwenden, die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen und so Giorgia Meloni, Marine Le Pen und Viktor Orbán von dem ihnen angehefteten Medienetiketten entlasten, Rechtsextremisten zu sein, da sie in Wirklichkeit Mitte-Rechts, Links, Mitte-Links sind, und zwar aufgrund einer Rechnung, die ihre politische Positionierung auf klare Art und Weise trianguliert, unabhängig von ihren nativistischen, chauvinistischen oder hyper-traditionalistischen sozialen Haltungen, die – wie wir oben gezeigt haben – auch für sozialistische Politiker charakteristisch sein können.

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