Rezension: Gekränkte Freiheit von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

von Stefan Kosak

Im Jahr 2022 ist das vieldiskutierte Werk Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey erschienen. Die Autoren unternehmen darin eine soziologische Analyse der Protestbewegungen der jüngeren Vergangenheit wie Pegida, der Querdenker- oder der Reichsbürgerbewegung. Ihre zentrale These lautet hierbei, dass die Anhänger dieser Protestbewegungen eine Haltung teilen, die Amlinger und Nachtwey als gekränkte Freiheit bezeichnen – ein Aufbegehren gegen jegliche Form von Autorität als Folge einer tiefen Enttäuschung des modernen Freiheitsversprechens.

Diese These bildet den übergreifenden Rahmen des Buches von Amlinger und Nachtwey,  wobei sie ihre Diagnose im Verlauf des Buches durch diverse theoretische und praktische Bezüge vertiefen. Amlinger und Nachtweys Betrachtungen sind theoretisch anspruchsvoll, da sie an die Analyse des autoritären Charakters der Kritischen Theorie anschließen und diese mit Blick auf das Phänomen des libertären Autoritarismus weiterführen. Den Autoren gelingt dabei zugleich eine anschauliche Darstellung der Zusammenhänge, indem sie ihre Einsichten durchgehend auf konkrete Phänomene beziehen und im letzten Teil des Buches durch die Auswertung von zwei Fallstudien zu spezifischen Protestmilieus empirisch untermauern.

Eine der Stärken dieses Buches liegt in den präzisen Beobachtungen von inneren Widersprüchen und Spannungen, die das Leben in spätmodernen Gesellschaften durchziehen. So erkennen Amlinger und Nachtwey etwa im Prinzip der Gleichheit eine Quelle von „unendliche[n] Frustrationsimpulsen“ (147). Auf der einen Seite weitet sich mit der Etablierung des Gleichheitsgrundsatzes der Blick aller Menschen für die potenziell verfügbaren Möglichkeiten, auf der anderen Seite treten gerade hierdurch die vorhandenen, mitunter auch kleinen Unterschiede umso deutlicher hervor. Während also zuvor Unterschiede in puncto Wohlstand und Status von jenen, die weniger Erfolg haben, weitgehend hingenommen wurden, werden nun auch geringe Unterschiede als Kränkung erfahren, da ein Zurückstehen hinter anderen vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht länger akzeptabel erscheint. In der Folge „ist das Streben des Einzelnen mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert – und verwandelt sich in bittere Benachteiligungsgefühle“ (152).

Weiterhin beleuchten Amlinger und Nachtwey, wie gesellschaftliche Konflikte nach innen gerichtet und so als persönliches Ungenügen erfahren werden. So werden beispielsweise „Statusdefizite […] als persönliches Versagen wahrnehmbar, indem sie auf individuelle Entscheidungen zurückgeführt werden“ (139). Derartige Erklärungsversuche führen häufig zu einem allgemeinen Ohnmachtsgefühl, dem die Betroffenen mit aversiven Gefühlen begegnen. So versucht man sich etwa der eigenen Beschämung zu entledigen, indem man andere abwertet, woraufhin das eigene „Versagen“ kleiner erscheint und das Schamgefühl abnimmt. Der Affekt wird auf diese Weise umgelenkt, in der Entwertung anderer bleibt  die ursprüngliche Selbstentwertung jedoch erkennbar. Ausgehend hiervon vertreten Amlinger und Nachtwey die Auffassung, dass die jüngeren Protestbewegungen solche aversiven Gefühle bündeln. Mit diesem Ansatz bieten die Autoren eine anspruchsvolle sozialpsychologische Erklärung für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Phänomene.

Drittens ist auch die kritische Auseinandersetzung der Autoren mit bestehenden Deutungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Phänomene hervorzuheben. Amlinger und Nachtwey distanzieren sich dabei insbesondere von Erklärungen, die gesellschaftliche Probleme auf individualpsychologische Pathologien zurückführen. Hierdurch würde man den Einzelnen die Verantwortung für strukturell bedingte Probleme zurechnen. Demgegenüber betrachten Amlinger und Nachtwey individuelle Zustände „unter der Prämisse, dass im Individuum die sozialen Konflikte auf eine gebrochene Art und Weise aufgehoben sind“ (137). Da gesellschaftliche Probleme zu individuellen Konflikten führen, erlauben die Probleme einzelner Personen Rückschlüsse auf den gesamtgesellschaftlichen Zustand, ohne dabei die individuellen Konflikte als alleinige Ursache für die gesellschaftlichen Probleme zu sehen.

Die Analyse von Amlinger und Nachtwey gewinnt dabei gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse noch einmal an Aktualität. Ihre Untersuchung zum Phänomen der gekränkten Freiheit lenkt dabei den Blick auf die tieferliegenden Ursachen der gesellschaftlichen Probleme. Der von Amlinger und Nachtwey geprägte Ansatz, „das Innenleben von Individuen, ihre Leiden und Affekte, im Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel [zu] interpretieren“ (136), kann hierbei einen wertvollen Beitrag leisten, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Problem zu verstehen. Die Auseinandersetzung mahnt zugleich vor allzu schlichten Deutungen der jüngeren gesellschaftlichen Entwicklungen, die vielfach „vom abgestandenen Geist kulturkonservativer Verfallserzählungen“ (135f) erfüllt sind. Ist doch eine zutreffende Erklärung, die dem Problem gerecht wird, die entscheidende Voraussetzung für wirksame Lösungsansätze. Diese gilt es freilich noch zu finden. Hierfür haben auch Amlinger und Nachtwey kein Patentrezept.

Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus  ist 2022 im Suhrkamp Verlag erschienen. Der Umfang beträgt 480 Seiten. Das Buch war 2023 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert (Sachbuch/Essayistik).

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