Die Initiative „Stop Hate for Profit“ hat kürzlich mit einem Appell an Facebook für Aufsehen gesorgt, die Verbreitung von Hassbotschaften, Beleidigungen und Falschmeldungen auf den Seiten des sozialen Netzwerks zu unterbinden. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, hat die Initiative Unternehmen dazu aufgerufen, ihre Werbeaktivitäten auf Facebook vorübergehend einzustellen. Weiterhin gibt es viele sogenannte Shitstorms, die Personen mit einer umstrittenen Meinung unter Druck setzen, von ihrem Standpunkt abzurücken. Diese Ereignisse stehen in Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung einer Cancel Culture.
Das Aufkommen einer Cancel Culture vollzieht sich vor dem Hintergrund, dass das öffentliche Meinungsbild zunehmend von problematischen Äußerungen geprägt wird. In erster Linie sind dies diskriminierende Botschaften, persönliche Beleidigungen und falsche Tatsachenbehauptungen. Befördert werden diese Tendenzen durch die Verlagerung der Kommunikation ins Internet, da sich hierdurch die Reichweichte und die Intensität von problematischen Äußerungen erhöht.
Die Verbreitung von problematischen Auffassungen geschieht dabei aus unterschiedlichen Beweggründen. Gemeinsam ist all diesen Äußerungen jedoch, dass sie eine Reihe von negativen Folgewirkungen hervorrufen. In erster Linie bedeuten sie eine Belastung für diejenigen, die das Ziel von Hasskommentaren und Beleidigungen sind. Darüber hinaus beeinträchtigen problematischen Meinungsäußerungen das gesellschaftliche Zusammenleben, da die Möglichkeit von konstruktiven Auseinandersetzungen schwindet und das gesellschaftliche Klima vergiftet wird. Insofern ist das Anliegen der Cancel Culture nachvollziehbar, eine öffentliche Verbreitung von problematischen Meinungen aufgrund der negativen Konsequenzen zu unterbinden.
Ein solches Vorgehen bedeutet jedoch zugleich, dass die von einer Cancel Culture geteilten Auffassungen allmählich die Deutung über das Geschehen bestimmen. Durch die Verdrängung von unliebsamen Meinungen wird die weithin akzeptierte Meinung in besonderem Maße geschützt. Das Argument von John Stuart Mill zur Verteidigung der freien Rede macht deutlich, dass man dies vermeiden sollte. Mill untersucht in seinem Argument, wie sich eine Unterdrückung von abweichenden Meinungen in drei verschiedenen Fällen auswirkt. Im ersten Fall erweist sich die abweichende Meinung gegenüber der gesellschaftlich vorherrschenden Auffassung als zutreffend. Sofern die abweichende Meinung unter dieser Voraussetzung nicht vorgebracht werden kann, beraubt man sich der Möglichkeit, die irrtümlichen Auffassungen zu korrigieren. Angesichts des destruktiven Charakters von Hassbotschaften und Falschmeldungen erscheint es allerdings abwegig, dass sich diese einmal als zutreffend erweisen. Da wir uns der Wahrheit unserer gegenwärtigen Auffassungen jedoch nie sicher sein können, müssen wir diesen Fall dennoch in Erwägung zu ziehen.
Im zweiten Szenario enthält weder die vorherrschende Meinung noch die hiervon abweichende Meinung die ganze Wahrheit. Sofern also die abweichende Meinung auch nur ein Bruchstück der Wahrheit enthält, sollte diese frei geäußert werden können, da man sich ansonsten der Möglichkeit beraubt, die ganze Wahrheit zu ergründen. Im Hinblick auf die Verbreitung von problematischen Äußerungen ist es nicht abwegig, dass diese trotz ihrer destruktiven Ausrichtung bestimmte Aspekte enthalten, die der politischen Meinungsbildung zuträglich sind. Dies ist etwa der Fall, wenn herabwürdigende Botschaften auf politische Missstände aufmerksam machen oder auf bislang vernachlässigte Bedürfnisse hinweisen.
Drittens diskutiert Mill den Fall, dass die unliebsame Meinung ganz und gar falsch ist. Selbst in diesem Fall sollte die abweichende Meinung jedoch frei geäußert werden dürfen, da die Auseinandersetzung mit der problematischen Position eine willkommene Gelegenheit bietet, sich der Gründe für die eigene Auffassung zu vergegenwärtigen und hierdurch ein tieferes Verständnis des eigenen Standpunktes zu entwickeln. Auch dieses Argument trifft im Hinblick auf die Verbreitung von Hasskommentaren und Falschmeldungen zu, wenn man sich im Zuge einer Auseinandersetzung mit problematischen Auffassungen der eigenen Überzeugung von einer toleranten und aufgeschlossenen Gesellschaft vergewissert. Eine Letztbegründung der eigenen Meinung lässt sich hierdurch freilich nicht erreichen, da wir nie Gewissheit darüber haben, was wahr ist und was nicht. Umso wichtiger ist es jedoch, den Grund der eigenen Überzeugungen vor Augen zu haben.
Aus Mills Argument folgt jedoch nicht, dass alle Meinungsäußerungen zulässig sind. So wird das Recht auf freie Meinungsäußerungen aus guten Gründen gesetzlich eingeschränkt, wenn Äußerungen etwa zu Gewalttaten auffordern oder gegen die Bestimmungen des Jugendschutzes verstoßen. Die Forderungen nach einem konsequenteren Vorgehen gegen rechtswidrige Inhalte sind daher zu begrüßen. Demgegenüber legt das zuvor angeführte Argument jedoch nahe, gerade solche Äußerungen nicht zu unterbinden, die zwar problematisch aber durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind. Die Etablierung einer Cancel Culture, die problematische Äußerungen jeglicher Art unterbinden möchte, erscheint daher nach dem Gesagten nicht erstrebenswert.
Wenn jedoch problematische Äußerungen sichtbar bleiben, bedeutet dies zugleich, dass den Betroffenen von Hatespeech die Konfrontation mit problematischen Meinungsäußerungen zugemutet wird. Die negativen Konsequenzen, die hieraus folgen, sollten jedoch nicht hingenommen werden. Vor diesem Hintergrund gerät die Strategie der Gegenrede in den Blick, wobei diese – ganz im Sinne Mills – auf eine inhaltliche Auseinandersetzung problematischen Meinungsäußerungen abzielt. So können problematische Äußerungen etwa unmittelbar durch die Veröffentlichung von konstruktiven Gegenpositionen adressiert werden. Vermutlich lässt sich das destruktive Potenzial von problematischen Meinungsäußerungen auf diese Weise eindämmen, da die Betroffenen hierdurch Solidarität erfahren und die Bedeutung eines toleranten und aufgeschlossenen Miteinanders betont wird. Aus diesem Grund sind die Politik, die Anbieter von sozialen Netzwerken sowie die Zivilgesellschaft dazu aufgefordert, ihre Bemühungen hinsichtlich der Strategie der Gegenrede zu intensivieren, anstatt eine Cancel Culture zu verfolgen.