Einwanderung und Armutsbekämpfung: Gute Gründe für offene Grenzen

von Stefan Kosak

Im März dieses Jahres ist in Deutschland das Fachkräfte-Einwanderungs-Gesetz in Kraft getreten. Dieses Gesetz soll es ausländischen Fachkräften ermöglichen, in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Vorausgegangen ist diesem Gesetz eine Jahrzehnte währende Debatte um die Frage der Einwanderung, die weitgehend ohne Ergebnis blieb. Arbeitskräften aus dem Nicht-EU-Ausland war es daher über eine lange Zeit kaum möglich, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die neuen Bestimmungen lassen jedoch einen wichtigen Aspekt außer Acht: den Zusammenhang zwischen Einwanderung und Armutsbekämpfung.

Mit dem neuen Fachkräfte-Einwanderungs-Gesetz endet ein langer Zeitraum, in dem die Einwanderung von ausländischen Arbeitskräften, anders als in vielen anderen Ländern, schlicht nicht vorgesehen war. Abgesehen von einigen Ausnahmen bestand in dieser Zeit lediglich dann die Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis, wenn der Aufenthalt aus anderen Gründen bewilligt wurde – etwa um die Familienzusammenführung zu ermöglichen. Das neue Gesetz sieht nun erstmals ausdrücklich die Einwanderung aus Gründen der Erwerbstätigkeit vor.

Der Antrieb für die Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitskräfte ist dabei vornehmlich im Zusammenhang mit dem zunehmenden Fachkräftemangel zu sehen, der für viele Branchen ein Problem darstellt. Laut einer Analyse der Bundesagentur für Arbeit ist davon auszugehen, dass die Zahl der fehlenden Fachkräfte aufgrund des demografischen Wandels in den kommenden Jahren weiter ansteigen wird. Zudem ist auch die Zuwanderung aus anderen EU-Ländern rückläufig.

Vor diesem Hintergrund gilt es jedoch einen weiteren Gesichtspunkt in den Blick zu nehmen, der in der gegenwärtigen Diskussion bislang kaum eine Rolle spielt. Es geht um die weltweite Bekämpfung von existenzgefährdender Armut. Zwar unterstützt die globale Staatengemeinschaft dieses Ziel mit einer Reihe von Entwicklungs- und Hilfsprogrammen. Eine entscheidende Maßnahme findet in diesem Zusammenhang jedoch kaum Berücksichtigung: offene Arbeitsmärkte. Die Armut wird dann geringer, wenn die Betroffenen über ein größeres Einkommen verfügen. Was zunächst wie eine Binsenweisheit klingt, birgt großes Potential. Denn unter widrigen Umständen ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, ist beinahe unmöglich. In einer florierenden Volkswirtschaft erzielen Menschen mit ähnlichen Qualifikationen hingegen ein deutlich größeres Einkommen, wie die Untersuchungen des Ökonomen Lant Pritchett belegen. Wenn nun also mehr Menschen in der Lage wären, ein größeres Einkommen zu erwirtschaften, würde dies dem Ziel der Armutsbekämpfung enormen Vorschub leisten. Hierin liegt die große Chance von Arbeitsmärkten, die auch ausländischen Arbeitskräften zugänglich sind. Für Menschen, deren Existenz durch Armut gefährdet ist, erwächst aus der Öffnung der Arbeitsmärkte eine Möglichkeit, ihre Lebenssituation grundlegend zu verbessern.

Rutger Bregman verweist in seinem Buch „Utopien für Realisten“ jedoch auf drei zentrale Vorbehalte, die oftmals gegenüber einer Öffnung der Arbeitsmärkte angeführt werden. So besteht erstens die Befürchtung, dass eine Öffnung der Arbeitsmärkte zu einer Umverteilung der Arbeitsplätze führt. Die gegenwärtigen Stelleninhaber werden demzufolge von den neu hinzugekommenen Erwerbstätigen aus ihren Positionen gedrängt. Ein zweiter Einwand lautet, dass das Hinzukommen von Erwerbstätigen mit niedrigeren Einkommenserwartungen zu einem Rückgang des Lohnniveaus führt. Als dritter Einwand wird häufig vorgebracht, dass das Hinzukommen von potenziellen Arbeitskräften eine Belastung für die Sozialsysteme darstellt. Wenn die betreffenden Personen keine Anstellung finden, beziehen diese staatliche Hilfeleistungen und stellen somit eine zusätzliche Belastung für die Solidargemeinschaft dar.

Untersuchungen hierzu deuten jedoch in eine andere Richtung. Zum einen ist davon auszugehen, dass die wirtschaftliche Produktivität mit einer größeren Anzahl an Erwerbstätigen steigt, so dass in der Folge mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Dass ein Anstieg der potenziellen Arbeitskräfte notwendig zu einem Verdrängungswettbewerb führt, ist somit wenig plausibel. Eine Studie der Weltbank bezüglich der Lohneffekte von Immigration und Emigration legt weiterhin nahe, dass die Einwanderung tendenziell einen Anstieg des vorherrschenden Lohnniveaus bewirkt. Die Sorge, dass eine größere Anzahl von Erwerbstätigen mit niedrigeren Lohnerwartungen einen allgemeinen Rückgang der Einkommen zur Folge hat, wird hierdurch relativiert. Zum anderen lässt sich auch der Einwand entkräften, dass die Öffnung der Arbeitsmärkte eine zusätzliche Belastung für die Sozialsysteme darstellen würde. Naheliegender ist vielmehr, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland aufgrund der zu entrichtenden Lohnabgaben einen Beitrag für die Sozialsysteme leisten.

Auch wenn sich die Vorbehalte gegenüber einer Öffnung der Arbeitsmärkte insgesamt als haltlos erweisen, kann eine Regulierung des Zugangs dennoch sinnvoll sein. So können Beschränkungen etwa dahingehend hilfreich sein, einen allmählichen Anpassungsprozess an die neue Situation zu ermöglichen, so dass Verdrängungseffekte und Einkommensverluste auch kurzfristig weitgehend ausbleiben. Auch einem möglichen Missbrauch der Sozialsysteme lässt sich begegnen, indem etwa Sozialleistung erst aber einer bestimmten Anzahl von Arbeitsjahren bezogen werden können. Zuletzt erscheint eine eingeschränkte Öffnung der Arbeitsmärkte auch deshalb vonnöten, um bestehende Aversionen gegenüber einem solchen Vorhaben sukzessive abzubauen.

Die Forderung nach offenen Grenzen zielt dann darauf, eine weniger restriktive Einwanderungspolitik zu verfolgen, die den Gedanken der Armutsbekämpfung berücksichtigt. Im Falle des deutschen Migrationspaktes würde dies bedeuten, die Einwanderung- und Arbeitsmarktpolitik nicht gänzlich vom Standpunkt des Fachkräftemangels abhängig zu betrachten, sondern die Öffnung des Arbeitsmarktes mit dem Ziel der Armutsbekämpfung zu verbinden. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, Menschen, die vornehmlich aus Gründen der Erwerbstätigkeit ihre Heimat verlassen, nicht länger auf despektierliche Weise als „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu bezeichnen.

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1 Kommentare

Thomas Leske 30. August 2020 - 19:30

Rutger Bregman übergeht anscheinend – wie so viele andere Autoren – die Frage, ob die Einheimischen unliebsame Konkurrenz von ihrem Arbeitsmarkt fernhalten dürfen. Michael Huemer argumentiert, dass dadurch die Rechte der Einwanderungswilligen verletzt werden:

https://edition.leske.biz/einwanderung2/huemer_immigration_split.html#toc-Subsection-3.1

Ebenfalls lesenswert ist Andreas Cassees Buch „Globale Bewegungsfreiheit“. Hier eine Rezension:
https://www.theorieblog.de/index.php/2017/01/andreas-cassees-plaedoyer-fuer-globale-bewegungsfreiheit-zugang-zu-institutionen-oder-zu-territorien/

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