Der moderne Nationalstaat bietet keine Lösungen für die Migrationsprobleme der Zukunft

von Madeleine Bausch

Nationalstaaten, diese global errichteten Konstrukte von Königen, Politikern oder Herrschern verschiedener Art und Dauer, sind aus unserem heutigen Alltag nicht mehr wegzudenken. Laut den Vereinten Nationen gibt es 195 in der Zahl und sie organisieren, regeln und bestimmen unser Zusammenleben, internationalen Handel und organisieren, was als richtig und als falsch betrachtet wird. So bestimmen sie z.B. 

  • Welches Gesetz herrscht, was jeder einzelne darf und nicht darf
  • Wie ich mich im Straßenverkehr benehmen muss
  • Um wie viel Uhr der Supermarkt schließt
  • Wie viel Geld den Städten und Kommunen zusteht
  • Wie die Lehrpläne und Ausbildungen unserer Kinder aussehen, in was und wie sie unterrichtet werden
  • Wie viel Geld Forschung und Lehre an Universitäten zukommt
  • Sie ermöglichen unsere Arztbesuche zu relativ geringen Kosten
  • unsere Rente (die immer geringer wird)
  • Sie legen Normen und Standards von Gütekriterien und Qualität fest
  • Bestimmen, welche Güter im Land verkauft werden dürfen; sie „schützen“ ja die Verbraucher; dabei setzen sie auch Preise fest und
  • bestimmen, wie Landwirte mit ihrem Vieh und Gemüse umzugehen haben
  • Im Falle von Deutschland tragen sie dazu bei, dass die Infrastruktur und die Bevölkerung in Ostdeutschland durch Umverteilung finanziert wird
  • ob und auf welchen Namen man einen Internetvertrag abschließen darf 
  • u.v.m.

Die Liste wäre vermutlich endlos, wenn ich ein großes Brainstorming-Festival mit meinen Nachbarn organisieren würde.

Kurz und gut: moderne Nationalstaaten liefern Antworten auf lokale Probleme einer lokalen Bevölkerung, die zumindest den Großteil ihres Lebens diesem Nationalstaat treu und erhalten bleibt. Sie binden Menschen gesetzlich, steuerlich sowie sprachlich-kulturell an ein begrenztes geographisches Territorium und grenzen Menschen dadurch zu anderen Menschen ab – ob identitär, sozial, politisch oder wirtschaftlich. Der Nationalstaat bietet also Antworten, sofern Menschen vorwiegend lokal denken und handeln – vor allem aber physisch auch bleiben

Seit geraumer Zeit wird die Welt aber immer internationaler, global zunehmend verflechtet – und vor allem digital. Auch wenn die Globalisierung kein neues Phänomen ist, tragen seit den letzten Jahrzehnten Kommunikationstechnologie, Transporttechnologie, steigende Gehälter und die politische Lage vieler Länder dazu bei, dass zunehmend mehr Menschen ihr Heimatland verlassen und – zumindest für eine geraume Zeit – in einem anderen leben. 

Es handelt sich dabei um ein umfangreiches Sammelsurium von Faktoren, die schließlich dazu führen, dass viele Menschen heutzutage nicht mehr in nur einem Nationalstaat sozialisiert werden: Ob der abenteuerfreudige Reisende oder Erasmusstudent, der ambitionierte Expat, der verzweifelte Flüchtling oder der arbeitssuchende Migrant – alle haben gemeinsam, dass sie nicht nur in einem Nationalstaat leben, sondern zwei oder zumeist noch weitaus mehrer im Laufe ihres Lebens.

Sobald ich – aus welchen Gründen auch immer – mein Land verlasse, stellt sich dann die Frage: Was mache ich mit meiner Krankenversicherung? Und die Rentenversicherung? Was geschieht aus dem Geld von all den Jahren, das ich einbezahlt habe? Wie finanziere ich mir meine Rente im Ausland? Gibt es in dem neuen Nationalstaat überhaupt eine Rentenversicherung? Und eine Krankenversicherung? Was mache ich mit der Schulbildung meiner Kinder? Nimmt die private internationale Schule sie einfach auf? Sie sprechen ja nicht einmal die Landessprache…

Sofern sich das ganze „nur“ über zwei oder drei Staaten hinwegzieht, ist die Situation zumeist noch leicht zu lösen:  Entweder ich bezahle meine Rente „zu Hause“ freiwillig weiter, um später dort Rente zu beziehen; oder ich schließe eine private Rentenversicherung im neuen Land ab; Ich schicke meine Kinder eben auf eine deutsche Schule in Vietnam (die ich vielleicht bezahlen muss, aber immerhin lernen sie dann deutsch weiter) oder ich warte eben mehrere Jahre, bis ich eingebürgert werde oder heirate lokal. Alles möglich.

Kompliziert wird es aber, wenn man ein so ausgeprägtes „born global“ Leben führt, wie zunehmend immer mehr Menschen unserer Generation. Die Kinder verliebter Erasmusstudenten wachsen dann in einem dritten Land auf (in der Forschung nennet man diese Kinder dann Third-Culture-Kids), leben vielleicht mal hier, vielleicht mal dort, gehen zuerst auf eine staatliche Schule, dann auf eine private im Ausland. Als erwachsene Arbeitnehmer zahlen sie dann mal hier Steuern, mal da, nutzen hier die Krankenversicherung (weil das Gesetz es ja so vorschreibt), bezahlen dort die Rentenversicherung (weil vielleicht auch durch den Staat erzwungen). 

Manche nationalen Systeme sind dabei mal besser kompatibel, da sie ähnliche Gesetze und Strukturen aufzeigen; andere sind dabei grundverschieden, und es gibt eventuell gar nicht die Strukturen, die man gewohnt war, in meinem Heimatland zu nutzen. 

Als Expat, Migrant oder auch Eltern stellt dies dann ein grundlegendes Problem dar, von dem ich hier nun mal vier exemplarisch anschneide:

  • viel bereits bezahltes Geld in Versicherungen wird dann eventuell nie ausbezahlt
  • bürokratische Hürden erschweren den ohnehin schon stressigen Systemwechsel
  • Viele nationale Schulen nehmen keine Kinder auf, die bislang nur auf internationalen Schulen waren, oder aber das Schulsystem nicht schon vorher kennen oder die Sprache nicht sprechen.
  • Einige Nationalstaaten erkennen nicht einmal ganze Nationalitäten an. Ohne Nationalitäten bleiben die Menschen unfähig, etwas zu tun (angefangen vom Umzug in eine andere Stadt bis hin zur Registrierung eines WIFI-Zugangs).

Die Quintessenz: Moderne Nationalstaaten liefern auf die Probleme moderner Migration keine Lösungen mehr. 

Die „Souveränität“ der vielen Staaten hilft dem Migranten nun auch nicht mehr weiter, wenn der heute beschließt, morgen in ein weit entferntes Land auszuwandern.

Staatschefs und Politiker sind viel zu stolz, gemeinsam eine Lösung zu finden (vermutlich haben sie das Problem der internationalen Migration noch nicht einmal in ihrer Fülle erkannt). Jeder will sich am runden Tisch der globalen Nationalstaaten nur selbst profilieren, zeigen, dass die eigene staatliche Lösung „the one best way“ ist, die eine wahre allgültige Lösung, die man am besten gleich überall implementiert – egal ob das ein westliches Demokratieverständnis oder der radikale Islamismus ist. Zusammenschlüsse wie die EU vereinfachen zwar die Migration innerhalb der Mitgliedsstaaten; diese supranationalen Institutionen gehören aber nach wie vor zur Rarität auf unserem Globus.

Für den Migranten stellt sich also die Frage: was tun?

Bis dato liefern eigentlich nur private Institutionen (Kranken-, Rentenversicherung oder Schulen) Lösungen auf die Struktur- und Bürokratieprobleme moderner Migranten: man bezahlt den „Service“, den man braucht und nutzt. Auch wenn die Rentenversicherung vielleicht ortsunabhängig bezahlt und eingelöst werden kann, muss ich nichtsdestotrotz in irgendeinem Land behördentechnisch und steuerlich verankert sein. Wirklich dezentrale Institutionen gibt es dabei noch nicht – da diese keinem Nationalstaat zugeordnet sind, d.h. „Die dezentrale Rentenversicherung für „globale Nomaden“ wurde noch nicht erfunden.

Wir müssen uns also fragen, ob Nationalstaaten in ihrem derzeitigen Entwicklungsstand überhaupt überlebensfähig sind. Ich denke nicht. Sofern Nationalstaaten nicht bald anfangen globaler zu denken, wird es schwierig sein, auf solche Probleme Antworten zu finden. Vielmehr gilt es, alternative Institutionen zu schaffen, um den Herausforderungen der globalen Welt wirklich konstruktiv gegenüberzutreten.

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