Liberty Interviews – Ingo Pies

von Redaktion

Prof. Dr. Ingo Pies ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben den Wert von Freiheit erkannt?

Ich habe Kindheitserinnerungen an verregnete Nachmittage, ich muss da vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Ich konnte nicht raus zum Spielen und wusste mir nicht anders zu helfen, als in der Küche vor der Fensterscheibe zu sitzen und zu beobachten, wie die Regentropfen die Scheibe entlangliefen. Ich verbinde dies noch heute lebhaft mit dem Gefühl tödlicher Langeweile. Meine fundamentale Freiheitserfahrung war, lesen zu lernen. Seitdem habe ich das Phänomen der Langeweile aus meinem Leben völlig verbannt. Schon als ganz junger Mensch habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, das Haus niemals ohne ein Buch zu verlassen. Die kleinen gelben Reclam-Heftchen waren da sehr praktisch. Noch heute habe ich stets einen Text zur Hand, den ich bei mir trage, so dass mich eine unerwartete Zwangspause niemals wieder in eine Situation der Langeweile bringt, in der es mir an Gelegenheit mangeln könnte, mich geistig zu betätigen.

Welches Buch hatte den größten Einfluss auf Sie?

Gary S. Becker (1976, 1982): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen: Mohr-Siebeck. Das Buch hat mich zur Ökonomik konvertieren lassen. Es hat mir die Augen dafür geöffnet, was positive Analyse zu leisten vermag – und dass Marktkritiker oft Maßnahmen befürworten, die das Gegenteil von dem bewirken, was sie beabsichtigen. Die meisten normativ strittigen Auseinandersetzungen drehen sich nicht um die moralischen oder politischen Ziele, die man für wünschenswert hält, sondern sie drehen sich um die am besten geeigneten Mittel zur Zielverwirklichung, auch wenn dies den am Streit beteiligten Parteien oft nicht klar ist. Seitdem lautet mein Credo. Eine leistungsfähige positive Analyse ist der Schlüssel zur Klärung normativer Fragen.

Welcher Denker hatte den größten Einfluss auf Sie?

Ich hatte in meinem Leben das Glück, viele sehr gute Lehrer zu haben, schon in der Schule, aber auch später an der Universität. Wenn ich hier nur einen Namen anführen darf, dann nenne ich meinen akademischen Lehrer und Doktorvater Karl Homann. Bei ihm – und von ihm – habe ich gelernt, konzeptionell zu denken, d.h. mich bei der Theoriebildung mit großer Energie und Ernsthaftigkeit darauf zu konzentrieren, was die absehbaren Folgen alternativer Theorieoptionen sind – immer orientiert an dem Motto, dass nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie.

Was ist Freiheit und wo liegen ihre Grenzen?

Ich unterscheide zwischen Freiheit im Handeln und Freiheit im Denken, oder mit Immanuel Kant: Freiheit zum privaten und Freiheit zum öffentlichen Vernunftgebrauch. Freiheit im Handeln ist wichtig. Die Einrichtung und Ausweitung von Privatsphäre und Privatautonomie gehört zu den zivilisatorischen Errungenschaften, die ich keinesfalls missen möchte. Aber ich glaube, die Freiheit im Denken ist noch wichtiger und wird in ihrer zivilisatorischen Bedeutung vergleichsweise unterschätzt. Innovationen kommen von Querdenkern. Deshalb verdienen Außenseiter Respekt und Toleranz. – Aus meiner Sicht teilt die Freiheit mit der Gesundheit die bedenkliche Gemeinsamkeit, dass die wahre Wertschätzung bei den meisten Menschen erst dann einsetzt, wenn erste Einbußen zu verzeichnen sind – also nicht pro-aktiv, sondern re-aktiv: im Modus des Nachtrauerns.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Freiheit in den letzten Jahrzehnten? Was ist zurzeit ihre größte Bedrohung?

In dieser Hinsicht bin ich stark beeinflusst von John Stuart Mill: Freiheit ist prinzipiell immer bedroht, und zwar von zwei unterschiedlichen Seiten aus. Zum einen kann das staatliche Gewaltmonopol individuelle Freiheit zerstören, wie die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts eindrücklich bewiesen haben. Zum anderen aber kann auch die Zivilgesellschaft auf eine absolut freiheitsgefährdende Art und Weise einen moralistischen, ja geradezu inquisitorischen Konformitätsdruck ausüben. Man denke nur an Hexenjagden und sonstige Moralpaniken sowie an die heute in den (un-)sozialen Medien wiedererrichtete Institution des öffentlich(keitswirksam)en Prangers. – Um auf die Frage konkret zu antworten: Wir erleben m.E. eine historische Übergangsphase. Der Mediensektor befindet sich im Umbruch. Die traditionelle Gatekeeping-Funktion ist obsolet geworden. Die Folge: Wir werden derzeit überschwemmt von einer Springflut schlechter Ideen. – Die gegenwärtig größte Gefahr besteht darin, dass linksradikale und rechtsradikale Phantasien den Staat als (inter-)nationale Beglückungsmaschine auffassen, anstatt sich auf die vergleichsweise langweilige (prozeduralistische) Perspektive einzulassen, dass es in der Politik primär darum geht, konkrete Missstände abzustellen. Die gegenwärtig beobachtbare Polarisierung übersieht, dass in einer vitalen Demokratie die progressive Linke und die konservative Rechte wie Mutation und Selektion zusammenwirken müssen, indem einerseits neue Ideen zur Diskussion gestellt werden, während andererseits kritisch geprüft werden muss, ob dies den Status quo wirklich verbessern würde.

Brauchen wir Freiheit in den nächsten Jahrzehnten?

Mit Blick auf die nächsten Jahrzehnte benötigen wir eine Institutionalisierung kontinuierlich höherer Diskursstandards. Um hier nicht missverstanden zu werden. Ich rede nicht staatlicher Zensur das Wort. Ganz im Gegenteil! Wir müssen der gegenwärtig auf breiter Front im Gang befindlichen Politisierung wissenschaftlicher Diskurse energisch entgegentreten und stattdessen beharrlich daran arbeiten, dass wir die politischen Diskurse verwissenschaftlichen – im Sinne von: ent-emotionalisieren, ver-sachlichen und auf inter-subjektiv nachvollziehbare Zweckmäßigkeitsargumente aus-richten.

Wenn Sie eine riesige Botschaft am Brandenburgertor platzieren könnten, was würde darauf stehen und warum?

Meine Botschaft wäre: „Denk-mal!“ Meine Begründung: Es geht um die denkerische (Selbst-)Aufmunterung zur (Selbst-)Aufklärung.

Was würden Sie einem jungen Menschen raten, der gerade ins Berufsleben eintritt? Welchen Rat sollte er ignorieren?

Das ist einfach mit zwei Botschaften zu beantworten: (a) Bilden Sie sich selbst Ihre Meinung. (b) Misstrauen Sie vermeintlichen Patentrezepten. – Meine Begründung rekurriert auf eine seit dem 19. Jahrhundert bekannte Einsicht, die wir Tocqueville verdanken. Sie lautet – da wir in einer nie zuvor gekannten Wachstumsökonomie leben: Die Vergangenheit hat aufgehört, ein erhellendes Licht auf die Zukunft zu werfen. Wir heutigen müssen die Auf-Klärung in unsere eigene Hand nehmen. Mit Hannah Arendt zu sprechen: Wir sind dazu verurteilt, ohne Geländer zu denken und zu handeln. Darin liegt unsere recht verstandene Freiheit: unsere Autonomie.

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