Die Pandemie der falschen Diskussionen

von Vincent Czyrnik

Impfen ist sinnvoll – nicht um die Pandemie vollständig und für immer zu beenden, aber um Menschen vor dem Corona-Virus zu schützen. Die Pandemie wird weitergehen: Menschen – ob geimpft oder ungeimpft – werden am Corona-Virus sterben, die Inzidenzen werden mal steigen, mal sinken; und vor dem Altersheimbesuch wäre es besser, sich testen zu lassen.

Mittlerweile wird darüber diskutiert, inwieweit Ungeimpfte aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollten. Sie könnten das Corona-Virus leichter übertragen und damit auch Geimpfte infizieren; zudem könnten Ungeimpfte für eine Überlastung des Gesundheitssystem sorgen. Werner Bartens schreibt in der Süddeutschen Zeitung: „Die Weigerung der einen, sich impfen zu lassen, bringt schließlich verlängerte oder neue Einschränkungen für die anderen mit sich“.

In Hamburg dürfen in Cafés und Restaurants nur noch Geimpfte und Genese sitzen, und aktuell wird über den Verdienstausfall bei Quarantäne von Ungeimpften entschieden: Wer sich nicht impfen lässt und als Kontaktperson gilt, der soll für die 10 Tage verpflichtende Quarantäne keinen Lohn mehr bekommen. Nur für Beamte soll diese Regelung nicht gelten

In einem Kommentar in den Tagesthemen bestärkt Michael Stempfle den Druck auf Ungeimpfte, weil sonst „die Gesellschaft die Pandemie nicht in dem Maße eindämmen kann, wie es möglich wäre.“ Die Menschen haben Angst vor einem erneuten Lockdown: schon wieder ein halbes Jahr alles zu – wozu hab‘ ich mich dann impfen lassen?

Moment mal!

Menschen, die sich nicht impfen lassen, erkranken häufig schwerer an Corona. Somit hat jeder – in der Theorie – ein Eigeninteresse, sich impfen zu lassen. Wer sich nicht impfen lässt, der gefährdet sich selbst.

Da Impfungen keine vollständige Immunität mit sich bringen – Geimpfte können sich auch infizieren und gar an Corona sterben, sollten die Corona-Zahlen möglichst niedrig gehalten werden. Da Ungeimpfte das Virus wohl schneller übertragen, sollten sich möglichst viele impfen lassen.

Es gibt nur ein Problem: Bei der Delta-Variante, die im August bis zu 97 Prozent der Corona-Fälle ausmachte, übertragen Geimpfte das Corona-Virus genauso häufig wie Ungeimpfte. Damit zerfällt das Argument, dass Ungeimpfte eine Gefahr für Geimpfte darstellen – beide Gruppen sind gleich ansteckend, Geimpfte besitzen nur einen besseren Selbstschutz.

„Eine flächendeckende Überlastung der Krankenhäuser ist von der Bundesregierung nicht behauptet worden.“

Ungeimpfte könnten aber immer noch das Gesundheitssystem überlasten, weil sie ungenügend gegen das Corona-Virus geschützt sind. Aktuell steht zur Diskussion, dass Ungeimpfte höhere Krankenkassenbeiträge zahlen sollen, damit die Verantwortlichen auch selbst die Kosten tragen. Aus ökonomischen Gründen kann das sinnvoll sein: Wer mehr kostet, soll auch mehr zahlen. Aus sozialen Gründen ist eine solche Maßnahme zu kritisieren: Dieser Logik zufolge müssten auch Raucher, adipöse Menschen, aber auch Risikogruppen und ältere Menschen höhere Beiträge zahlen – all diese brauchen häufiger medizinische Versorgung und kosten damit dem Gesundheitssystem mehr. Solidarität mit vulnerablen Gruppen sieht anders aus.

Doch zurück zu dem Argument mit dem überlasteten Gesundheitssystem: Im März 2020 – zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland – wurden aus Angst vor ausufernden Corona-Zahlen Lockdowns und andere Einschränkungen eingeführt. Im Nachhinein wurde immer wieder medial berichtet, wie überfüllt die Krankenhäuser seien, dass die Intensivbetten knapp wären und dass bald Patienten abgewiesen werden müssten, wenn die Politik die Kontaktbeschränkungen nicht weiter verschärft.

In einem kürzlich erschienen Bericht des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin wurde die Lage in den Krankenhäusern im Corona-Jahr 2020 noch einmal ausführlich betrachtet. Demnach seien nur durchschnittlich rund 2 Prozent der Krankenhausbetten und 3,4 Prozent der Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt gewesen. Eine erschreckend kleine Zahl, die die Politik dennoch dazu veranlasste, zwei Lockdowns durchzuführen.

Außerdem wurden seitens der Politik Anreize geschaffen, die Intensivbettenkapazität künstlich knapp zu halten: Je mehr Betten in einem Krankenhaus belegt sind, umso mehr kassiert das Krankenhaus. Die logische Folge: Die Krankenhäuser haben weniger freie Betten. In Hinblick auf ausufernde Corona-Zahlen ist das eine absurder Anreiz. So wurden im Corona-Jahr 2020 sogar 9000 Intensivbetten deutschlandweit abgebaut, zudem schummelten die Krankenhäuser etwas bei den Zahlen über freie Betten.

Allerdings waren durchaus einzelne Krankenhäuser in Sachsen im Dezember 2020 überlastet, sodass die Patienten nach Mecklenburg-Vorpommern verlegt wurden mussten. Trotzdem spricht der Presseprecher des Bundesgesundheitsministerium Sebastian Gülde davon, dass eine „eine flächendeckende Überlastung der Krankenhäuser … von der Bundesregierung nicht behauptet worden“ ist.

„Als wir unser Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.“

Die Corona-Krise triggert zwei große Ängste der Menschen: Zum einen die Angst vor einer schweren Krankheit, die den Tod bedeuten kann; und zum anderen die Angst vor einem erneuten Lockdown – welcher für viele soziale Isolation heißt. Menschen sind bereit vieles zu tun, um beides zu verhindern. Und mit einer Impfung gelingt es fast jedem, zumindest den ersten Punkt – die Schwere einer möglichen Infektion – abzumildern.

Lockdowns lassen sich nicht direkt mit Impfungen verhindern – denn Lockdowns sind politische Entscheidungen. In Schweden oder auch einzelnen Bundesstaaten in den USA gab es keine massiven Einschränkungen, und trotzdem verlief die Pandemie dort sehr ähnlich wie in Deutschland. Wir sollten daher darüber diskutieren, inwieweit Lockdowns – und vor allem lange Lockdowns – wirklich eine gute Idee waren.

So zeigt eine Studie aus Harvard, dass der Effekt von Lockdowns auf das Pandemiegeschehen nach circa 3 Monaten verpufft. Ein Lockdown über 7 Monate, wie die Bundesregierung ihn in Deutschland von November 2020 bis Juni 2021 durchzusetzen versuchte, hat der Studie zufolge keine wissenschaftliche Basis, da er die Infektionszahlen kaum beeinflusst. Auch während der 3 Monate, in welchen ein Lockdown „wirkt“, hat er mehr negative als positive Effekte: Operationen werden verlegt, Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck werden weniger behandelt, häusliche Gewalt und psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen nehmen zu. In der Summe, so eine Studie aus Stanford, richtet ein massiver Lockdown mehr Schaden an, als dass er nützt.

Wissenschaftler aus Chicago legen dar, dass der Unterschied zwischen Counties in den USA (ähnlich zu Landkreisen in Deutschland) mit und ohne Lockdown nur minimal ist. Die These der Autoren: Vor allem die Angst vor einer Infektion treibt die Menschen dazu, sich nicht mit Menschen zu treffen und damit das Pandemiegeschehen einzudämmen. Das erklärt auch, warum der Lockdown von November 2020 bis Juni 2021 scheiterte: Die meisten Menschen hatten die Angst vor dem Virus verloren – oder ihnen waren die sozialen Kontakte schlichtweg wichtiger.

Wer also argumentiert, dass Menschen indirekt zur Impfung gezwungen werden sollten, um einen erneuten Lockdown zu verhindern, der hinterfragt nicht, ob die massiven Einschränken wirklich notwendig waren. Doch warum fällt es Menschen schwer, die vorherrschenden Narrative zu hinterfragen?

Das Problem der versunkenen Kosten

Am Anfang der Pandemie galten Lockdowns und andere kleinere Kontaktbeschränkungen als das einzige Mittel, um die Infektionszahlen klein zu halten. Für die meisten Menschen bedeuteten diese Maßnahmen soziale Isolation, doch die Menschen nahmen diese Last in Kauf – aus Angst vor der Krankheit, aus Angst vor der Bestrafung bei Regelverstoß oder aus Solidarität zu ihren Mitmenschen.

Im Nachhinein lässt sich sagen, dass es für die Gesellschaft als Gesamtes wahrscheinlich besser gewesen wäre, sich auf sanftere Maßnahmen zu beschränken: Verbot von Großveranstaltungen und Schutz der vulnerablen Gruppen. Mittlerweile haben wir aber sehr viel Leid und Nerven in die aktuelle Corona-Politik investiert, für viele war der 7-monatige Lockdown gar traumatisierend. Es würde wehtun, sich jetzt auf einmal einzugestehen, dass dies der falsche Weg war.

Die Psychologie beschreibt das Problem der versunkenen Kosten: Man stelle sich eine Beziehung vor, in die man Jahre seines Lebens investiert hat. Auf einmal merkt man, dass er oder sie nicht der richtige Partner ist – oder es gar einen besseren Partner in Aussicht gibt. Doch man hat schon so viel Zeit und Mühe in die Beziehung investiert, dass es einem schwer fällt, die Beziehung einfach zu beenden. In der Beziehung sind schon so viel Kosten „versunken“ und es macht einem große Mühe, Schluss zu machen und neu zu starten.

Ähnlich verhält es sich mit der Corona-Krise: Wir haben jetzt schon so viel Zeit und auch Leid in den Weg investiert, fast alles auf die Impfungen zu setzen und mit Lockdowns & Co. die Infektionszahlen niedrig zu halten, dass wir nicht bereit sind, damit „Schluss zu machen“. Um es mit Ulrike Guérot’s Worten zu sagen: „Ein politisches System hat sich verselbständigt und findet nicht mehr aus den Argumenten heraus, in denen es sich verheddert hat.“

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