Eine Lehre aus der Krise: Konsens in der Gesellschaft

von Max Molden

Am Samstagabend ein Theaterbesuch, das Spielen eines Videospiels, die Lektüre eines dicken Schmökers oder doch lieber ein Abend im Gasthaus mit ein paar Freunden? Was wir tun und lassen möchten, steht uns frei. Jeder kann sich entscheiden, wie und womit er seine Zeit verbringt, welchen Lebensweg er einschlägt und mit wem er diesen beschreiten möchte. Natürlich gibt es auch Einschränkungen – wir können nicht einfach wegfliegen und eine benachbarte Galaxie besuchen oder unsere beste Freundin dazu zwingen, zum zehnten Mal mit uns Real Madrids Gewinn von La Décima zu schauen. Aber innerhalb gewisser Grenzen sind wir doch frei, unsere Ziele selbst zu bestimmen und jene Werte, die uns am Herzen liegen, zu leben. Dass das so ist, ist eine der herausragendsten Errungenschaften der modernen, freien Gesellschaften. Wir können friedlich zusammenleben, ohne uns auf bestimmte Ziele zu einigen.

Und wie sollte solch eine Einigkeit über unsere diversen Ziele auch erreicht werden? In unserem alltäglichen Leben treffen wir extrem viele Entscheidungen. Wir entscheiden uns, was wir gerne essen, was wir zur Unterhaltung nutzen, wie wir uns weiterbilden und welche Aktivitäten wir mit unseren Freunden oder der Familie unternehmen. Nehmen wir mal an, wir wollten gemeinsam entscheiden, welche Angebote es für Unterhaltung geben solle. Das hieße zu entscheiden, wie groß unser gemeinsames Budget für Unterhaltung sein soll – sollte es beispielsweise geringer sein, damit mehr für Bildung oder Religiöses zu Verfügung steht? Daraufhin müssten wir festlegen, welche Arten von Unterhaltung über ein wie hohes Budget verfügen sollten. Sollten 20% in Filme gesteckt werden auf Kosten von Theater, Philharmonie und Oper? Und was ist mit Sport, Videospielen, Outdoor-Aktivitäten, der Buchbranche oder den Entertainern auf YouTube? Aber auch innerhalb dieser einzelnen Bereiche müssten wir uns einigen, wie das respektive Budget weiter aufgeteilt wird. Sollte das Gros des Filmbudgets für Superheldenfilme aufgewandt werden oder ist es besser, es gleichmäßiger aufzuteilen, sodass auch Nischen, wie der Film noir, genügend Mittel erhalten? Und welche Regisseure, welche Schauspieler sollten wir dann wiederum engagieren? Die offensichtliche Antwort ist, dass wir nicht hoffen können, hier auch nur annähernd einen Konsens zu erreichen. Je spezieller die Frage, desto unerreichbarer der Konsens!

Es ist daher unser großes Glück, dass in unserer Gesellschaft Einigkeit nur bestehen muss über die Regeln innerhalb derer wir unser Leben leben und unsere Bedürfnisse zu befriedigen suchen. Es reicht also, dass wir uns alle über das Regelwerk einig sind, mittels dessen wir eine Vielzahl an individuellen Zielen verfolgen. Der notwendige Konsens ist somit auf eine recht geringe Zahl an Regeln beschränkt. Abseits davon braucht es keinen.

In Ausnahmefällen, wie dem Ausbruch einer Pandemie, kommt es aber dazu, dass wir als Gesellschaft uns auf ein konkretes Ziel einigen können, das wir gemeinsam unbedingt erreichen wollen. Der Ausbruch des Corona-Virus ist das prägnanteste Beispiel hierfür. Die Bekämpfung eines sich rasant verbreitenden, häufig tödlichen und zumindest zu Beginn kaum einschätzbaren Virus, das eine unmittelbare Bedrohung für einige und zumindest eine mittelbare Bedrohung (die Gefahr, nahe Angehörige und Freunde zu verlieren) für jeden darstellt, ist ein Anliegen, das (nahezu) jeder teilt. Auf dieses konkrete Ziel können wir uns als Gesellschaft folglich einigen. Allgemein formuliert handelt es sich bei diesen Ausnahmefällen um ein Ziel, das (nahezu) alle als extremst wichtig ansehen. Daher besteht dann Bereitschaft, spezielle Maßnahmen einzuführen beziehungsweise temporär sogar Freiheiten auszusetzen, da nicht sicher ist, ob das abstrakte Regelwerk mit ausreichender Wahrscheinlichkeit die Erreichung des Ziels gewährleisten kann. Besondere Maßnahmen mögen also zumindest für einen gewissen Zeitraum unabdingbar sein, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen, und wir können uns auch darauf einigen, besondere Maßnahmen zu ergreifen.

Aber nur weil wir übereinstimmen, dass besondere Maßnahmen notwendig sind, folgt nicht, dass wir uns auch einig sind, welche dies sein sollten. Der eine mag es während der Corona-Krise sinnvoll finden, dass Händchenhalten in der Öffentlichkeit verboten wird, der nächste findet, dies sei nicht dramatisch, man solle eher den samstäglichen Bundesliga-Konferenz-Biergartenbesuch unter Strafe stellen – und natürlich sowieso Fußballspiele verbieten. Und wiederum ein anderer spricht sich für zeitlich streng begrenzte Maßnahmen aus, was dem vierten aber zu unvorsichtig erscheint. Wir sehen also, dass es schwierig ist, einen Konsens zu finden, wenn das, über das wir uns einigen müssen, umfangreicher ist. Können wir uns noch auf unser gemeinsames Sonderziel einigen, so fällt es uns schon schwerer, die Maßnahmen zu bestimmen, mit denen wir das Sonderziel erreichen wollen. Nichtsdestotrotz kann es bei Ausnahmezielen eben der Fall sein, dass besondere Maßnahmen für einen befristeten Zeitraum unabdingbar sind, und eine bestimmte Reihe an Maßnahmen für einen bestimmten Zeitraum dann wohl oder übel implementiert wird. Dies kann dann zu Streit und Widerspruch führen, der aber unvermeidbar ist, wenn wir eine für alle bindende Handlung vornehmen müssen, da gemeinsames Handeln notwendig ist. Diese Uneinigkeit ist natürlich nicht wünschenswert, weil sie letztlich das friedliche Zusammenleben aller gefährdet. Es sollte stets unser Ziel sein, so weit wie möglich Konsens zu erreichen. Und in Ausnahmesituationen können wir diesen Konsens eben nicht darüber erreichen, dass wir den Bereich, über den wir uns einigen müssen, auf ein Minimum reduzieren, wie es sonst die auf einem Mittelkonsens basierende „Good Society“ tut.

Wie können wir also in Ausnahmesituationen Konsens näherkommen und unseren Diskurs verbessern? Es ist hilfreich, sich zuerst zu fragen, worüber genau denn Einigkeit oder Uneinigkeit herrschen kann. Um unser Ziel zu erreichen, müssen wir passende Mittel einsetzen; hier sind Prognosen bezüglich der Effekte verschiedener Mittel notwendig. Wenn wir eine konkrete Vorhersage treffen wollen, dann müssen wir uns fragen, welche Faktoren eine Rolle spielen und dann im zweiten Schritt diese Faktoren gewichten, um eine präzise Prognose abgeben zu können. Dieses Schema der zwei Stufen können wir auch anwenden auf unsere Handlungsvorschläge, die ja grundsätzlich auf moralischen Überlegungen basieren. Welche Auswirkungen sind relevant? Und dann: wie gewichten wir diese Aspekte? Nachdem wir eine Prognose erstellt haben, was der Effekt von zwei verschiedenen Handlungen sein wird, können wir diese erwarteten Effekte anhand unserer moralischen (oder auch un- oder amoralischen) Werturteile einordnen und die unseren Werten passende Lösung wählen. Dabei ist es deutlich einfacher, Konsens darüber zu finden, welche Faktoren in der Entstehung eines Phänomens eine Rolle spielen oder welche Aspekte wir alle betrachten müssen, wenn wir ein (moralisches) Urteil fällen. Die Schwierigkeit ist die Gewichtung der unterschiedlichen Faktoren; Konsens hierüber ist wohl nur sehr selten realistischerweise zu erwarten. Das Schema der zwei Stufen kann uns daher helfen, Konsens näherzukommen oder zumindest den existierenden deutlicher zu machen. Erstens können wir uns im öffentlichen Diskurs in einem ersten Schritt darauf konzentrieren, auszuarbeiten, was denn alles von Bedeutung ist. Hierüber ist Konsens im Bereich des Möglichen und die Debatte kann von diesem gemeinsamen Fundament aus dann untersuchen, wie stark die verschiedenen Faktoren gewichtet werden sollen. Zweitens, und wohl am wichtigsten, erlaubt es uns eine derartige zweistufige Betrachtung, die gemeinsame Basis der relevanten Faktoren als gemeinschaftsstiftendes und verbindendes Element zu entdecken. Vielleicht ist unser abschließendes Urteil ein anderes und vielleicht schätzen wir die Bedeutung eines Faktors oder Effekts geringer ein. Aber wir erkennen, dass auch wenn es diese unterschiedlichen Gewichtungen und folglich Urteile gibt, wir doch auch in einigem übereinstimmen und somit etwas gemeinsam haben, das die Basis darstellt für sinnvolle Debatten und ein friedliches Miteinander.

Es ist sehr schwierig, sich auf konkrete Ziele zu einigen, und wohl unmöglich ist es, sich darauf zu einigen, wie diese spezifischen Ziele erreicht werden sollen. Im Allgemeinen also zeigt sich in solchen Ausnahmesituationen, welch großartige Leistung stetig durch unsere freiheitliche Ordnung vollbracht wird. Denn es ist gerade ihr Verdienst, den notwendigen Konsens auf ein Minimum runterzuschrauben. Es bedarf nur der Verständigung auf die fundamentalen Regeln, innerhalb derer jeder nach seiner Façon glücklich werden kann. Wir müssen keinen Konsens darüber finden, wie jemand sein Leben leben sollte, solange die Normen und Regeln unserer Gesellschaft geachtet werden. Und es ist nicht notwendig, dass wir uns als Gesellschaft einigen, welche Güter produziert oder Dienstleistungen angeboten werden. Wir müssen nicht übereinstimmen, was gute und was schlechte Unterhaltung, was herausragende und was mittelmäßige Kunst ist.

Wir können friedlich miteinander leben ohne die gleichen Ziele bzw. Präferenzen zu teilen, da in unserer Gesellschaft der notwendige Konsens minimiert wird. Können wir nicht auf diese Minimierung des notwendigen Konsens zurückgreifen, dann ist es hilfreich, unsere Debatte besser zu strukturieren. Denn dadurch können wir unsere Berührungspunkte klarer erkennen, die ein verbindendes Fundament für uns als Mitglieder unserer Gesellschaft darstellen.

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