„Der“ Neoliberalismus – Totgesagte leben länger

von Maximilian Diemer

Ein Gespenst geht um auf der Welt – das Gespenst des Neoliberalismus…
Dieses Gespenst steht für finstere Mächte, bestehend aus den globalen Wirtschafts- und Politikeliten. Diese Eliten hätten die Welt mit einem Netzwerk überzogen, das die Entscheidungen der Politiker am demokratischen Volkswillen vorbei im Sinne und zum Vorteil des dämonischen Neoliberalismus beeinflusste. All dies geschehe naturgemäß auf dem Rücken und zum Nachteil der Armen und Entrechteten. Die Trias von „Privatisierung, Steuersenkungen [für die Reichen] und Sozialstaatsabbau“ sei das Credo dieser Kraft, die stets das Böse will und es auch schafft…
Nun verhält es sich mit diesem Gespenst allerdings so wie mit allen anderen auch: „Alle reden davon, aber keiner hat es gesehen.“ La Rochefoucaulds Aperçu soll uns Anlass sein, zu versuchen, etwas mehr Klarheit zu schaffen. Etwas mehr Aufklärung anzubieten, bei einem Begriff, der insbesondere qua negativer Konnotation durch seine Gegner zu einer Kampfvokabel wurde, unter die alle zeitgenössischen Übel subsummiert werden. Der Neoliberalismus hat es jedoch verdient, in seiner historischen Genese nachverfolgt und ausdifferenziert zu werden.
Dafür müssen wir zunächst nach Paris im Jahre 1938 blicken. Der Kreissaal des Neoliberalismus findet sich in der Rue Montpensier. Beim Colloque Walter Lippmann treffen die renommiertesten Vertreter der liberalen Theorie des 20. Jahrhunderts zusammen, darunter u.a. Friedrich August von Hayek und Wilhelm Röpke. Die zweifache Krisis des Liberalismus, nämlich die ökonomische, wie sie sich in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 Bahn gebrochen und dadurch zum Vertrauensverlust in die Lehrsätze des „Laissez-faire“ auch unter liberalen Denkern geführt hatte und die politische, mit dem Aufstieg illiberaler Totalitarismen, namentlich Faschismus und Kommunismus, war für die versammelten Denker mit Händen zu greifen. Eine Weiterentwicklung liberalen Denkens hatten sich die Anwesenden zum Ziel gesetzt. Unter anderem sollte die Rolle des Staates neu bestimmt werden. Der Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts wurde nicht mehr als ausreichend für die Garantie funktionierender Märkte betrachtet. Mit einer Neubestimmung der liberalen Position mutatis mutandis – auf „Neoliberalismus“ hatte man sich schließlich zögernd geeinigt – wollte man den Herausforderungen der Zeit entgegentreten.
Der zweite Weltkrieg verhinderte jedoch eine weitere Koordinierung der Teilnehmer weitgehend, die Kriegswirtschaft gewöhnte Wähler dies und jenseits des großen Teiches an staatliche Planung und Regulierung und der (Neo)Liberalismus erhielt kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen. Bis 1947. In diesem Jahr gründete sich auf Betreiben Hayeks die Mont Pèlerin Society, deren Statement of Aims allerdings nicht über die mittlerweile unüberbrückbaren Differenzen zwischen einzelnen Neoliberalismus-Konzeptionen hinweg zu täuschen vermochte. 
Drei dieser unterschiedlichen Ansätze wollen wir uns nun knapp ansehen: 
Der von Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Walter Eucken entworfene Ordoliberalismus Freiburger Prägung hat mit seinen Überlegungen die Entwicklung der „Sozialen Marktwirtschaft“ in der Nachkriegs-BRD maßgeblich mitgeprägt. Staatliche Wettbewerbspolitik, insbesondere die Verhinderung von Monopolen, ist der zentrale Aspekt der ordoliberalen Theorie. Ein starker Staat soll mit einem strengen Haftungs- und liberalen Patentrecht eine möglichst ideale Wettbewerbssituation schaffen. Denn erwerben Marktteilnehmer zu viel Macht, können sie ihre Position ausnutzen, um Gewinne oberhalb des Gleichgewichtspreises zu generieren. Die Besitzstandswahrung dieser so genannten „Rente“ erfolgt anschließend meist über politische Einflussnahme, was wiederrum dem Wettbewerb empfindlich schadet, ja das Marktsystem schließlich in eine tiefe Krise stürzt. 
Demgegenüber steht der „evolutionäre“ Neoliberalismus Friedrich August von Hayeks. Besonders Hayeks Verständnis der Dynamik des Wettbewerbs und seiner epistemischen eher denn rein ökonomischen Bedeutung. Nur der Markt ist imstande relevantes, v.a. auch implizites, Wissen zu akkumulieren und zu koordinieren, damit das für alle Marktteilnehmer konstitutive Nicht- beziehungsweise Zuwenigwissen bei ihrer Entscheidungsfindung überbrückt werden kann. Sobald dieser Prozess nicht mehr ergebnisoffen abläuft, kollabiert das System der Wissensvermittlung und es kommt zu Fehlallokationen. Auch normativ ist der Markt vorzuziehen, denn nur eine Marktgesellschaft kann individuelle Freiheit realisieren, da es die Individuen sind, die den am Markt gehandelten Dingen subjektiven Wert beimessen und keine zentrale Behörde eine „gültigerere“ Wertsetzung oktroyiert. Da die Marktgesellschaft nach Hayek ein „establishment[s], which [is] indeed the result of human action, but not the execution of any human design“ (A. Ferguson) darstellt, ebenso wie das sie beschützende Recht, wertschätzt Hayek die Gewordenheit dieser beiden Zivilisationspfeiler. Im Gegensatz zu den Ordoliberalen sieht Hayek aber auch in der Selbstbeschränkung des Staates insbesondere durch eine „Verfassung der Freiheit“ ein zu erstrebendes Ziel des Neoliberalismus.
Den theoretischen Dreiklang abschließen soll ein kurzer Blick auf Milton Friedmans monetaristischen Neoliberalismus. Entlang einer fundamentalen Kritik am Keynesianismus entwickelt Friedman seine formalistische „Angebotstheorie“ mit der Kernforderung, die Geldmenge gemäß einer gewissen Rate, abgestimmt auf das zu erwartende Wirtschaftswachstum, konstant auszuweiten. Auf dieser Grundlage bleibt als einzig nennenswerte Staatsaufgabe der Abbau von Marktzugangsbeschränkungen. 
Trotz einer veränderten Rolle des Staates in der Marktgesellschaft, betonen vor allem Hayek und Friedman den Primat des Marktes gegenüber dem Staat. Auch aus normativen Gründen: „The ballot box produces conformity without unanimity; the marketplace, unanimity without conformity.“ heißt es bei Friedman oftmals. 
Mit der Zeitenwende 1979 gelingt es neoliberalen Ideen erstmals fruchtbringend in die politische Gestaltung miteinbezogen zu werden. Vor allem in Großbritannien unter dem Thatcherismus, der durch Deregulierungen und Privatisierungen zur Überwindung der Stagflation der 1970er Jahre maßgeblich beiträgt, und in den USA mit den „Reaganomics “, die vergleichbare Produktivitätssteigerungen mit sich bringen, entwickelt sich der Neoliberalismus zu einem, wenn auch nicht in all seinen Facetten umgesetzten, politischen Gestaltungsprinzip. Sogar die neue Linke hat zumindest zeitweise viele neoliberale Ideen, wie z.B. Arbeitsmarktreformen, in ihre Agenden übernommen, bis auch der Neoliberalismus durch eine Krise, nämlich die Finanzkrise 2008 in Verruf kam. Die wohl präziseste Definition des gegenwärtigen Neoliberalismus berücksichtigt auch Foucault oder G. Becker, wenn sie von einer „Ausweitung der Marktlogik auf alle Sphären des sozialen Lebens, durchgesetzt und gefördert durch den Staat“ (G. Scialabba) spricht. 
 Um aber dem vorangegangen historischen Abriss auch eine zeitgenössische Komponente an die Seite zu stellen, wollen wir abschließend einen streitbaren Versuch unternehmen Forderungen auszumachen, die der Neoliberalismus heute stellt: Darunter fallen neben der – fiskalischen – Selbstbeschränkung des Staates, Freihandel und Freizügigkeit, das Eleminieren von Optionen für rent-seeking, eine negative Einkommenssteuer, uneingeschränkte Rechtsstaatlichkeit sowie eine pluralistische Gesellschaft und Respekt vor dem impliziten Wissen des Marktes.
 
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