Regenbogenfarben im Dienst europäischer Gewissensberuhigung

von Alexandre Kintzinger

2018, WM in Russland, Manuel Neuer trug in jedem Spiel die Regenbogenarmbinde. 2021, europaweiter Aufruhr gegen den Spielort Baku. Für die anstehende WM 2022 in Katar erklären mehrere Nationalmannschaften einen Boykott. Wäre schön gewesen…, oder? War aber nicht so. Tauchen wir gemeinsam ein in die wunderbare Welt von «Discount Moralismus» und europäischer «Kurzzeitmoral».

Schreckliche Aufregung am vergangenen Mittwoch: Die UEFA verbot die Färbung der Außenfassade der Münchner Allianz Arena in den Farben des Regenbogens. Sie begründete dies damit, dass es sich hier nicht nur um eine universelle Botschaft der Toleranz handele, sondern um einen direkten politischen Appell an den ungarischen Staat. Die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban steht in der Kritik wegen eines umstrittenen Gesetzes, welches u. a. Inhalte in Medien verbietet, die Homosexualität neben Heterosexualität als gesellschaftlich normal darstellen.

Niemand kann leugnen, dass das ungarische Gesetz einen sehr diskriminieren Charakter besitzt und sich zudem vehement gegen die Meinungsfreiheit richtet. EU-Kommissionspräsidentin von Ursula von der Leyen hat ein entscheidendes Vorgehen gegen das Gesetz angekündigt. Orban selbst soll angekündigt haben, demnächst deswegen nach Brüssel zu reisen. Eine weitere Konfrontation zwischen der EU und Ungarn steht also wieder bevor, es bleibt abzuwarten, wie diese sich entwickelt.

Die Entscheidung der UEFA wurde seitens von Vereinen, der Politik, und auch von vielen Menschen in den sozialen Medien flächendeckend kritisiert. Die UEFA verteidigt sich mit der Behauptung, dass der Verband politisch neutral sei. Inwiefern die UEFA sich hinter solch einer Argumentation verstecken kann, ist sicherlich streitbar, vor allem aufgrund der Werte, für die der Verband zu stehen wirbt. Dazu erklärt die UEFA auf ihrer Internetseite folgendes:  «Die UEFA […] fördert den Fußball im Geiste des Friedens, der Verständigung und des Fairplays, ohne Diskriminierung aufgrund der politischen Haltung, des Geschlechts, der Religion, der Rasse oder aus anderen Gründen».

Ein «starkes» Statement, bei dem sich jeder wohl selbst sein eigenes Bild davon machen kann, wie die UEFA diese proklamierten Werte auch wirklich in die Tat umsetzen möchte. Zudem man sich auch selbst die Fragen stellen darf, was man wirklich von einer «gemeinnützigen» Organisation erwarten kann, die seit Jahren in etlichen Steuer- und Finanzskandalen verstrickt war und welche Werte der «Sport der Freundschaft» in diesem kommerzialisierten Konstrukt des Profifußballs noch überhaupt vertritt. Wo liegt denn nun der moralische Kompass von einem «gemeinnützigen» Verein, der davon profitiert, dass viele Staaten den Fussballsport massiv subventionieren, selbst aber mit Übertragungsrechten in Milliardenhöhe handelt. Der englische Begriff «Crony capitalism» passt hier schon etwas.

Die derzeitige Kritik gegen Ungarn in der Öffentlichkeit und vor allem in den sozialen Medien hat einerseits sehr wohl ihre Berechtigung, jedoch ist sie auch hochgradig scheinheilig. Dieser so genannte «Discount Moralismus» kritisiert eben nur da, wo es ihm gerade am bequemsten ist und wo es gerade irgendwie passt. Er ist sogar zutiefst schädlich für unsere Debattenkultur und steht in einem Widerspruch zu der Tradition der Aufklärung, da er in seiner Scheinheiligkeit sich selbst das moralische Recht erteilt, ein bestimmtes Unrecht zu kritisieren und ein anderes zu ignorieren.

Zudem hat dieser «Discount Moralismus» etwas von «Mitmach-Aktivismus», jeder kann dabei sein, ohne sich vorher über das Thema ausführlich informiert zu haben. Außerdem leben wir mittlerweile in einer von «Kurzzeitmoralismus» geprägten Zeit. Wegen der Schnelllebigkeit von Nachrichten in unserer Gesellschaft ist das Thema oft nach einer kurzfristigen Zeitspanne von ein bis zwei Wochen schon wieder vergessen.

Diese Scheinmoral und dieser sogenannte «Mitmach-Aktivismus» lassen sich relativ leicht entlarven, nämlich anhand von Beispielen von Ereignissen, wo der gängige moralische Maßstab anders anwendet wurde oder wird. Und um klar zu verdeutlichen, diese Kritik ist kein Whataboutism, hier geht es um keinen rhetorischen Ablenkungsversuch, denn Ungarn wird zurecht kritisiert. Diese Kritik will aufzeigen, warum Scheinmoral innerhalb einer Demokratie gefährlich ist und jede freie, aufgeklärte Debatte ins ad absurdum führt.

Bei der WM 2014 spielte Deutschland gegen Algerien. In Algerien ist Homosexualität vom Gesetz her verboten und in den vergangenen Jahren gab es immer wieder gewalttätige Vorfälle gegen homosexuelle Menschen. 2019 wurde ein Student in seinem Uni-Wohnheim ermordet und mit seinem Blut wurden die Worte „er ist schwul“ an die Wand gemalt. Der Mörder nahm nach eigenen Angaben an, damit eine gerichtliche Verhandlung vermeiden zu können. Hat 2014 oder 2019 irgendein Spieler aus der deutschen Nationalmannschaft sich zu der Situation von Homosexuellen in Algerien geäußert, hat irgendjemand eine Regenbogenarmbinde am Arm getragen? Nein, aber Deutschland wurde immerhin 2014 Weltmeister.

Anderes Beispiel: Seit 2013 gibt es in Russland ein Gesetz gegen so genannte «Homosexuelle Propaganda», ebenfalls ein Gesetz, das klar diskriminierend ist und die Meinungsfreiheit einschränkt. Gab es bei der WM 2018 deswegen irgendein Statement gegen die Unterdrückung von Homosexuellen in Russland seitens irgendeines Spielers aus der deutschen Mannschaft? Nein, hier leider auch nicht. Aber machen wir nicht nur Deutschland zum Buhmann, denn der französische Präsident Emmanuel Macron, selbsternannter Verfechter von LGBTQ-Rechten, konnte es sich nicht nehmen lassen, ausgiebig im Stadion in Moskau damals seine Mannschaft zu feiern, die den WM-Titel gewann. Das kollektive Glücksgefühl in Form von «Fußball-Patriotismus» hat eben manchmal Vorrang vor den Menschenrechten.

Einer der Spielorte der derzeitigen Fussball-Europameisterschaft liegt in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Genauso wie Katar ist Aserbaidschan nicht gerade als traditionsreiche «Fussballnation» bekannt. Eine Auseinandersetzung gab es letztes Jahr noch mit dem Nachbarland Armenien, nicht auf dem Spielfeld, sondern auf dem Schlachtfeld. Der vorderasiatische Staat am Kaspischen Meer wird seit 2003 vom «sympathischen» Ilham Hejdär oglu Älijew regiert. Das Journalistennetzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project ernannte ihn 2012 zur Person of the Year. In der Riege der Autokraten sicherlich eine schmeichelhafte Auszeichnung. Im Jahr 2020 listete die ILGA-Europa in ihrem Rainbow Europe Index Aserbaidschan auf letzter Stelle (Platz 49) in Bezug auf LGBTQ-Rechte. Also ein regelrechter „Hort der Toleranz und Freiheit“, dieses Aserbaidschan.  Platz 48 im ILGA Index nimmt übrigens die Türkei ein, dieses Jahr auch bei der EM mit von der Partie. Hat sich bisher irgendwer im Kreise des DFB oder der „Mannschaft“ zu diesem Thema geäußert? Naja, Profifußballer oder Funktionäre sind natürlich arbeitstechnisch so eingespannt, dass da wohl wenig Zeit bleibt, um sich mit dem Thema Menschenrechte ausführlicher zu beschäftigen.

Dennoch, die Hoffnung, aus vergangenen Fehlern zu lernen, ist doch etwas, was uns Menschen aus der „westlichen Hemisphäre“ auszeichnet, oder etwa nicht? Die anstehende Weltmeisterschaft 2022 im Emirat (kein Kalifat) Katar, nicht zu verwechseln mit dem deutschen Influencer-Paradies Dubai, steht schon seit längerem unter massiver, öffentlich-medialer Kritik. Mal davon abgesehen, dass es sich hier um einen anti-demokratischen, autoritären Staat handelt, Homosexualität gilt als illegal, richtet sich die Kritik gegen Katar vor allem gegen die sklavenähnlichen Zustände auf den Baustellen der WM-Stadien. In der deutschen Öffentlichkeit wurde zuletzt durch Umfragen bekannt, dass eine Mehrheit sich einen Boykott der WM von ihrer Nationalmannschaft wünsche.

Doch Fehlanzeige, von den voraussichtlich teilnehmenden Mannschaften weltweit hat bisher noch keine sich getraut, diesen Schritt zu wagen, trotz der desaströsen Menschenrechtslage. Mit Krokodilstränen wurde zuletzt noch seitens der Verbände und der fußballaffinen Presse argumentiert, wie schrecklich es doch wäre, wenn vor allem jungen, talentierten Profifußballern die Teilnahme an ihrer ersten WM verweigert würde. Ein Boykott würde ja angeblich nichts ändern an der Gesamtsituation und ein Karriereknick wegen Menschenrechten, ach wie schrecklich. Ein „Human Rights“ Schriftzug auf den Trikots der deutschen Mannschaft zu Beginn der WM-Qualifikation gilt dann schon als tiefgreifende, fundierte Kritik. Die Aussagekraft und der Mut, welcher hinter solchen Statements steckt, ist eine Lehrstunde für jeden Regimekritiker, Menschenrechtsaktivisten oder inhaftierten Oppositionellen.

Obwohl es sicherlich noch unzählige Fälle von öffentlich zu Schau getragener Scheinmoral gibt, waren diese Beispiele wohl aufklärend genug, um die moralische Diskrepanz innerhalb der Gesellschaft zu beleuchten, wenn es um das Verhältnis von Sport und Menschrechten geht. Die Erkenntnis daraus für einen selbst sollte sein, dass der moralische Zeigefinger, wenn damit auf ein Unrecht gedeutet wird, dies nicht aus einem Automatismus heraus passieren sollte. Als freie, aufgeklärte Individuen sollten wir uns davor hüten, öffentlich kollektiver Aufregung blind hinterher zu laufen.

Eine andere Erkenntnis ist, dass wir mit diesem unreflektierten Verhalten es der Politik, wie auch in diesem konkreten Fall der Bubble des Profi-Fußballes mit all seinen Akteuren und Prominenten Gesichtern, es sehr einfach machen. Einfach machen in dem Sinne, dass wir ihnen gestatten mit ihren Doppelstandards und ihrer Scheinmoral so weiter zu machen wie bisher.

Schlussendlich können normale Menschen entweder nur durch ihre Macht als Konsument oder durch politische Partizipation, um z.B. die staatliche Subventionierung solcher Bereiche in Frage zu stellen, auf Dauer in diesem Bereich des Profisports etwas nachhaltig ändern.

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