Moralische Überlegenheit: Die Abgründe des Gutfühlens

von Vincent Czyrnik

Für die neuen Moralisten ist klar: Nur wer gendert, Fahrrad statt Auto fährt und sich an die Corona-Regeln hält, ist ein guter Mensch. Der Rest muss belehrt und kontrolliert werden. Dabei übersehen sie ihre eigenen Denkfehler.

Es gibt einen Wunsch, den wir alle hegen – ob Arzt oder Obdachloser, Politiker oder Heroinsüchtiger, Polizist oder Dieb. Dieser Wunsch ist: Wir möchten uns gut fühlen. Mit jeder unserer Handlung, mit jedem Atemzug verfolgen wir genau dieses Ziel. Das klingt erschreckend einfach, ist aber so. Der Arzt, wenn er sein Medizinstudium abschließt; der Obdachlose, wenn er einen schönen Platz zum Schlafen findet; der Politiker, wenn er wiedergewählt wird; der Junkie, der sich gerade den Heroin-Kick mit der Spritze verpasst; der Polizist, wenn am Ende des Monats der Lohn auf dem Konto ist; und sogar der Dieb, wenn er eine Handtasche erhascht. Dieser Wunsch, uns gut zu fühlen, lässt uns morgens länger im Bett liegen bleiben, er lässt uns aber auch aufstehen, wenn wir später abends das gute Gefühl haben möchten, einen produktiven Tag geschafft zu haben.

Vielleicht regt sich in dem einen oder anderen nun ein innerer Widerstand, im Sinne: Das kann doch nicht sein, so einfach kann die Welt doch nicht  erklärt werden. Werfen wir dafür einen Blick in unterschiedliche Wissenschaften:

  • Psychologen nennen es positive Verstärkung bzw. negative Bestrafung – wir handeln grundsätzlich so, dass wir innerlich belohnt werden bzw. keine schlechten Gefühle aufkommen.
  • Ökonomen sprechen von Präferenzen – wir entscheiden uns für das, was uns den größten Nutzen verspricht.
  • Biologen setzen auf die Evolution – bei der das Ausleben der menschlichen Instinkte uns besser fühlen lässt.
  • Für Soziologen ist es unter anderem die Angst vor gesellschaftlicher Sanktionierung – Menschen verhalten sich konform, damit sie nicht von ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Wir vermeiden also negative Konsequenzen und entgehen so negativen Gefühlen.

Das Gutfühlen spielt in jeder dieser Wissenschaften eine übergeordnete Rolle, wenn nicht gar die entscheidende Rolle, um die entsprechenden Phänomene erklären zu können. Und wie so vieles hat Gutfühlen auch seine Schattenseiten, besonders dann, wenn wir die moralische Dimension unseres Handeln betrachten. Es ergeben sich erstaunliche Erkenntnisse.

Gutfühlen als Problem

Gutfühlen kann für uns selbst oder auch für andere zum Problem werden. Für uns selbst, wenn wir zu häufig den Kick des kurzfristigen Gutfühlens nachgehen: Wir werden abhängig von Spielen, Drogen, Essen oder anderen Sachen, die schnelles Glück versprechen. In einem gesunden Leben ist es wichtig, mehr und mehr dem nachhaltigen Gutfühlen nachzugehen: Ein Studium durchziehen, einer Arbeit nachgehen, nachhaltige Beziehungen pflegen oder sich ausgewogen ernähren.

Für andere wird unser Drang nach guten Gefühlen zum Problem, wenn wir unser Glück auf Kosten anderer ausleben. Dabei funktioniert unsere Gesellschaft so, dass es durchaus gegenseitige Abhängigkeiten gibt, bei denen einige für andere sorgen oder gar für deren Probleme aufkommen. Dabei gilt es aber zu unterscheiden: Es ist okay, wenn Eltern für ihre Kinder sorgen, damit letztere sich gut fühlen; es ist aber nicht okay, wenn ein Drogensüchtiger seinen Konsum finanziert, indem er andere beklaut. Dass wir ersteres gut und letzteres schlecht finden, ist auf die Werte unserer Gesellschaft zurückzuführen. Elternfürsorge ist wünschenswert, Beschaffungskriminalität hingegen unerwünscht. 

Ironischerweise und auch zum Glück lässt uns die Fürsorge für andere – zum Beispiel als Eltern – selbst gut fühlen. Wir schaffen Win-Win-Situationen. Daher steckt in jeder altruistischen Tat auch Egoismus, weil wir durch freiwillige gute Taten uns selber gut fühlen: Fahrrad statt Auto fahren, Bäume pflanzen oder weniger Fleisch essen sind Musterbeispiele, in denen wir scheinbar moralisch wünschenswert handeln und sich ein Teil von uns dabei gut fühlt. 

Moralismus ist Egoismus

Unser Streben, uns gut zu fühlen, erklärt also auch, warum wir uns tugendhaft verhalten. Diese Erkenntnis wirft ein interessantes Licht auf Menschen, die das moralische Leben zu einem übersteigertem Ideal erheben. Für jene ist der ökologische und soziale Lifestyle ein Muss für jeden Menschen. Dabei reichen banale Sachen wie Fahrradfahren oder Veganismus nicht mehr aus, nein, die soziale Revolution muss weitergehen (hier nur ein paar Beispiele):

  • Du solltest zu jeder weiblichen beruflich Brot-backenden Person Bäckerin oder lieber Bäcker*in sagen.
  • Du solltest dich aktiv gegen jede Form von Rassismus einsetzen. (Dabei bestimmen die Diskriminierten selbst, was Rassismus ist und was nicht. Der intellektuelle Wortführer der Black Lives Matter-Bewegung, Ibram X. Kendi, meint beispielsweise: Die einfache Behauptung, kein Rassist zu sein, reicht nicht aus. Jeder sollte ein Anti-Rassist sein – sonst bist du ein Rassist. Ein Anti-Rassist ist nur, wer Gesetze fordert, die die sozioökonomische Gleichheit zwischen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe bzw. Ethnien herstellen, während „Rassismus“ aus jeder Maßnahme oder Idee besteht, die zu rassischer Ungleichheit führt. Um die Absurdität dieses Verständnisses vor Augen zu führen: Erst wenn genau so viel Weiße wie Afroamerikaner an Covid sterben, dann ist der Rassismus überwunden)
  • Du solltest den Klimawandel als großes Problem anerkennen und dich in Form von Klimaaktivismus auch dafür einsetzen. (Auch wenn beispielsweise der Nobelpreisträger William Nordhaus vom 1,5-Grad-Ziel abrät und Umweltökonomenen wie Bjorn Lomborg die Dringlichkeit des Klimawandels hinterfragen – sie sagen nicht, dass es den Klimawandel nicht gibt!)

Dabei gibt keinen offenen Diskurs darüber, ob beispielsweise ein Binnen-I wirklich notwendig ist, um alle Geschlechter respektvoll zu behandeln. Stattdessen bestimmen wenige Sondergruppen nach Gefühl, was richtig und was falsch ist. Das Patriarchat ist abgeschafft, doch etabliert sich langsam aber sicher eine neue herrschende Klasse: die Moralisten. Es spielt es nur noch eine untergeordnete Rolle, ob diese moralischen Anliegen wirklich wahr und für die Gesellschaft hilfreich sind.

Was einige Moralisten vielleicht sauer aufstoßen mag: Es ist egoistisch, für eine moralisch wichtige Sache einzustehen, weil es einen selbst gut fühlen lässt. Einige wirken wie getrieben, gut zu sein und gut zu handeln, sodass sie gar nicht merken, wie sie ständig den Kick des Gutfühlens brauchen – wie ein Junkie, der täglich sein Heroin braucht. Sie rechtfertigen sogar ihre Sucht und machen andere nieder, die nicht (nach ihrem Verständnis) gut handeln: Sie fühlen sich moralisch überlegen. Für den Gute-Taten-Junkie ist es ein weiterer Kick, andere zu belehren und zu erzählen, wie gut sie sind. Schließlich geht es für sie um nichts minder als die Rettung der Erde und Gesellschaft.  

Was stimmt mit denen nicht?

Die neuen Moralisten sind ein wenig wie Abhängige. Sie bemerken die Lücken und Widersprüche in ihren Überzeugungen nicht. Und zwar deshalb nicht, weil sie sie verdrängen wollen, da sie den Kick des Gutfühlens brauchen. Hinterfragt man ihre guten Taten, droht der Kick zu verschwinden – und damit das Lebenselixier der Moralisten. Daher verstehen sie Kritik gleich als Angriff auf die eigene Person und reagieren empört. Es ist ein wenig so, als ob man einem Süchtigen seine Droge wegnimmt. 

Sie treibt das Gefühl um, etwas tun zu müssen – vielleicht aus dem Schuldgefühl, der Welt nicht genug zu sein, vielleicht aber auch aus gutem Willen. Sie sind sich sicher: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Doch sollten gute Taten wohlüberlegt sein – sonst hat man mit unerwünschten Nebenwirkungen zu rechnen. Denn nicht jedes Mittel wird zum gewünschten Ziel führen. 

Und auch das pure Sein, das pure In-Ruhe-lassen kann gut sein. Nicht über alles muss man seine Fuchteln haben. Die neuen Moralisten denken wohl, sie wären Eltern, die Andersdenkende nach ihren Vorstellungen erziehen müssen. Sie sagen sich: Wer die Notwendigkeit des Binnen-I, extremen Anti-Rassismus und Klima-Aktivismus nicht erkennt, mit dem stimmt etwas nicht. Die Verweigerer müssen böse oder naiv sein, dass sie solch konservativen Wertvorstellung hinterherlaufen. Und so langsam entwickeln sich die Moralisten von Eltern zu Helikopter-Eltern: Die naiven Kinder müssen kontrolliert und ständig beurteilt werden, damit sie endlich lernen, was gut ist und was nicht. Bleibt zu hoffen, dass einige sich aus dieser ungesunden Beziehung befreien. 

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5 Kommentare

Franzi 30. Januar 2022 - 19:48

Auch deine Theorie weißt Lücken und Widersprüche auf, denn was ein Mensch für moralisch richtig hält, ist unterschiedlich. Es gibt nicht den einen Moralisten. Es gibt nur Menschen, die eine andere Überzeugung als du vertreten. So findet es die eine Mutter nicht moralisch, ihr Kind allein spielen zu lassen, die andere findet es nicht moralisch, wenn das Kind sich nicht allein entfalten kann. Auch dein Text erzeugt den Eindruck von moralischer Überlegenheit, eben weil du andere Menschen aufgrund ihres Verständnisses von Moral herabsetzt und suggerierst, dass das so richtig wäre. Vielleicht geht es bei allem nicht darum, wer moralisch richtig handelt und wer sich für moralisch hält, sondern darum in der Gesellschaft voranzukommen, indem wir alte Glaubenssätze über Board werfen und ein zukunftsorientiertes Denken fördern. Am Ende entscheidet nur, worauf sich ein Großteil der Gesellschaft einigt und damit was der Gesellschaft zur Zeit am meisten nutzt. Somit handelt es sich dann auch nicht um Egoismus, sondern um ein allgemeines Vorankommen. Und ja, auch die Gesellschaft irrt sich in mancher Hinsicht mal. Wenn du bessere Ideen hast, verbreite doch lieber diese als dich über andere Ideen und Menschen, die diese vertreten zu beschweren! 🙂

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Vincent Czyrnik 30. Januar 2022 - 22:15

Hi Franzi, danke für deinen Kommentar. Du hast recht: In dem Artikel nehme ich selbst einen moralischen Standpunkt ein und urteile moralisch über Moralisten (welch Ironie). Ich hätte den Artikel defensiver schreiben können, aber wollte eben auch ein bisschen provozieren (auch aus einer eigenen Wut heraus), um den Text etwas unterhaltsamer zu machen.

Ich glaube mein Egoismus-Begriff wird von dir ein wenig Missverstanden: In dem Artikel hat Egoismus eine Wertung, klar, aber an sich ist das für mich ein neutraler Begriff. Egoismus meint, dass alles, was du und ich tun, wir nur tun, weil wir uns daraus in irgendeiner Weise einen Vorteil erhoffen. Menschen, die diesen Fakt leugnen, leugnen diesen Fakt, weil sie sich durch das Leugnen einen Vorteil erhoffen. Das beste Beispiel sind dafür glaube Politiker, die im Wahlkampf für „Solidarität“ oder „sozialen Gerechtigkeit“ oder auch „gegen den Genderwahn“, „für die Heimat“ werben – und dass man nur sie wählen muss, damit die Ziele endlich umgesetzt werden.

Was nicht bedeuten soll, dass es nicht wichtige gesellschaftliche Ziele gibt. Ich wollte mit dem Artikel nur ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Egoismus (oder Selbstbezogenheit des eigenen Handelns) immer eine Rolle spielt – auch eben bei „gutgemeinten“ Taten.

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Klaus Jacobi 8. April 2022 - 14:09

@Franzi
Zitat: „Am Ende entscheidet nur, worauf sich ein Großteil der Gesellschaft einigt und damit was der Gesellschaft zur Zeit am meisten nutzt. Somit handelt es sich dann auch nicht um Egoismus, sondern um ein allgemeines Vorankommen.“
Damit wäre ja bewisen, dass die „Mehrheit“ meist die falschen Entscheidungen trifft. Wo sind wir denn hingekommen in unserem „Vorankommen“? Reiche werden immer reicher und Arme immer ärmer. Kinder müssen hungern und Rentner Flaschen sammeln oder putzen gehen um über die Runden zu kommen. Weitere Beispiele dieses „Fortschrittes“ erspare ich mir.
Ganz ehrlich?
Da wäre ich (71) lieber in den 1980er Jahren stehen geblieben.

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Lemme 3. Juni 2023 - 16:10

Sehr schön und mit Spitzen auf den Punkt gebracht.
Gibt es für eine derartige Eigenschaft oder Persönlichkeitsfacette einen Namen?

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Linke-Slawinski 18. Juni 2023 - 10:55

Was ich mal gelernt habe ist, dass es so genannte Lebensstil-Prioritäten gibt. Die Begrifflichkeit entstammt ursprünglich der Individualpsychologie nach Dr. Alfred Adler – weiterentwickelt von Albrecht Schottky und Theo Schoenaker. Nachzulesen in: „Was bestimm mein Leben?“ wie man die Richtung des eigenen Ich erkennt.

Dass ich es mit einem Menschen zu tun habe, der sich moralisch überlegen fühlt, merke ich persönlich daran, dass ich das Gefühl bekommen (soll), irgendwie „schuldig“ zu sein bzw. mich schuldig gemacht zu haben. Moralapostel haben aus meiner Sicht eine besondere Gabe dafür, anderen Schuldgefühle zu vermitteln. Ihre verbale und nonverbale Kommunikation ist überdurchschnittlich mit ernsthaftenVorwürfen gespickt (kein Humor, keine Ironie, keine Satire). Als Gegenüber habe ich dann stets das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen (mir ein Recht (an)fertigen zu müssen) – statt es ganz selbstverständlich auch zu haben (wie der Moralapostel selbst). Deshalb halte ich persönlich die ganze Moralisiererei auch tatsächlich für gefährlich: Menschen, die das tun – wenn auch aus eigener (zwanghafter) Überzeugung – sprechen anderen ihr Recht ab, eigene, ggf. abweichende Standpunkte zu haben und diese auch vertreten zu dürfen. So werden (moralischen) Dogmen Tür und Tor geöffnet – genügend historische Beispiele für solche Mechanismen gibt es ja leider bereits.

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