Was passiert gerade in Tiflis?

von Christoph Frädrich

In den vergangenen Tagen gab es unzählige Berichte über die aktuelle Situation in Georgien. Die Lage scheint unübersichtlich. Aber was ist in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, tatsächlich passiert?
Die interparlamentarische Versammlung der Orthodoxie (Interparliamentary Assembly on Orthodoxy – IAO) ist ein Verband aus 21 Staaten, welche nach dem Zerfall der Sowjetunion gegründet wurde, um die Kommunikation zwischen den orthodoxen Christen zu wahren.
Am 20.06.2019 kam es in Tiflis zu einem Treffen dieser Organisation im georgischen Parlament. Bereits im Vorfeld sorgte die Einladung des russischen Duma Abgeordneten und Präsidenten der Generalversammlung der IAO Sergej Gawrilow durch die orthodoxe Kirche Georgiens und Mitglieder des Parlaments für Wirbel. In Folge des eskalierenden Kaukasus-Konflikts sind seit 2008 circa 20 % des georgischen Staatsterritoriums durch Russland besetzt. Aus diesem Grund stieß die Einladung eines russischen Abgeordneten zu diesem Treffen auf großen Unmut in der Bevölkerung Georgiens.
Trotz der Warnungen und Proteste durfte Sergej Gawrilow im georgischen Parlament eine Rede auf Russisch halten und das im Sessel des Parlamentschefs. Daraufhin protestierten Oppositionelle und Abgeordnete im Parlament gegen die Anwesenheit Gawrilows. Im Zentrum der Stadt versammelten sich zu diesem Zeitpunkt bereits fast 10.000 Demonstranten auf der Straße, darunter auch Mitglieder der Students for Liberty Georgien. Sie gingen von dort aus in Richtung Parlament, um ihren Protest dort fortzusetzen. Der Rücktritt vom Vorsitzenden des Parlaments Irakli Kobachidse wurde gefordert. Kobachidse selbst und Mitglieder der Regierungspartei „Georgischer Traum“ lehnten die Forderung ab und sahen keinen Grund sich zu entschuldigen.
Bis zu diesem Zeitpunkt verliefen die Proteste äußerst friedlich. Dies sollte sich nach der Provokation Gawrilows allerdings ändern. Mit der Aussage, dass er sich nicht unwohl fühle, sondern sehr glücklich sei, in seinem Heimatland sein zu können, brachte das Fass für die Demonstranten zum Überlaufen. Damit äußerte Gawrilow indirekt, dass er Georgien trotz der Erklärung der Unabhängigkeit vom 09.04.1991 als Teil Russlands sehe. Für die georgische Bevölkerung war das ein verbaler Schlag ins Gesicht. Trotz der Bemühungen der Oppositionsführer, die Situation vor dem Parlament zu beruhigen, um einen Ausbruch der Gewalt zu vermeiden, versuchten einige Demonstranten, sich Zutritt zum Parlament zu verschaffen. Die anwesende Polizei drängte die Demonstranten mit Gewalt zurück.
Ab diesem Zeitpunkt eskalierte die Situation vollkommen, Demonstranten griffen Polizisten an, diese reagierten mit Knüppeln, Gummigeschossen und Wasserwerfern. Infolgedessen wurden mindestens 200 Menschen verletzt. Eine Person schwebt in Lebensgefahr.
Tags darauf, am 21.06.2019, gab Irakli Kobachidse seinen Rücktritt bekannt. Am Abend äußerten die Demonstranten weitere Forderungen.  Zum einen wird der Rücktritt des Innenministers Giorgi Gakhari gefordert, denn die Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass er zuständig für den unverhältnismäßig harten Einsatz der Polizeikräfte ist und zum anderen, die Auflösung des Parlaments und vorgezogene Neuwahlen. Bei den Demonstrationen an diesem Abend blieb es friedlich.
Es fällt schwer, Gewalt egal in welcher Form zu tolerieren, denn sie verursacht weitere Konflikte, anstatt diese zu lösen. Was in Tiflis in der Nacht vom 20.06. zum 21.06. geschah, war eine komplette Eskalation der Gewalt. Die Wut der Demonstranten kann man durchaus nachvollziehen. Die Geschichte zwischen Georgien und Russland oder damaligen Sowjetunion ist geprägt von Diktatur und Hass, deshalb ist es unverständlich, weshalb man einem russischen Abgeordneten ins Parlament einlädt und ihn im Sessel des Parlamentschefs reden lässt. Dass dieses Verhalten bei der georgischen Bevölkerung nicht gut ankommt, hätte den Parlamentariern und der orthodoxen Kirche Georgiens durchaus bewusst gewesen sein müssen. Ebenso ist der überharte Einsatz der Polizei gegen die eigene Bevölkerung zu kritisieren. Warum eröffnet man das Feuer auf die eigenen Leute? Vor allem vor dem Hintergrund weshalb diese Menschen auf der Straße sind.
Die Hoffnung kann nur sein, dass die zukünftigen Proteste friedlich verlaufen, denn dieser Weg ist der Richtige und Erfolgreichste. Aktuell steht Georgien an einem weiteren wichtigen Punkt seiner Zukunft. Eine neue Regierung, die den Wünschen der Bevölkerung nach einer pro-westlichen Politik entspricht, wäre ein Beginn, aber ebenso eine Gefahr. Die russische Regierung steht der Abwendung von ehemaligen Sowjetstaaten sehr kritisch und unfreundlich gegenüber. Die politischen Spannungen in Georgien und Europa würden damit nicht kleiner werden, auch wenn Georgien sehr profitieren würde.
An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen Freunden von SFL Georgien Liza Katsiashvili, Gaga Tutarashvili, Katie Shoshiasvili und Nini Mtchedlishvili bedanken, welche die Ereignisse schilderten und festhielten. დიდი მადლობა!
Dieser Artikel spiegelt die Meinung des Autors, nicht der Organisation wieder. Dieser Blog bietet die Plattform für unterschiedliche liberale Ideen. Mehr zur Organisation auf www.studentsforliberty.de

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