Die individualistischen Menschen im Westen sind ziemlich weird

von Max Molden

Joseph Henrichs Idee von WEIRD people überrascht. Denn nach ihr gibt es bedeutende psychologische Unterschiede zwischen den Menschen. Genau diese Unterschiede können aber den Sonderweg der westlichen Zivilisation erklären, legt Henrich in seinem Buch The WEIRDest People in the World dar.

Der Mensch ist individuell, er ist einzigartig. Sein Hauptwerkzeug ist das analytische Denken, mit dem er Kontrolle über sich und seine Umwelt anstrebt. Wer ein Mensch ist, hängt ab von seinem Selbst, seinen Überzeugungen, seinen Erfolgen, seinen Zielen. Dieser Fokus auf das Individuum ist fundamental die Perspektive der westlichen Welt auf den Menschen.

Aber weder versteht jeder Mensch, der zurzeit unsere Welt bevölkert, sich so noch hat sich die Menschheit über die längste Zeit ihrer Existenz so verstanden. Joseph Henrich zeigt in seinem Buch, dass gerade der Fokus auf einen individualistischen und analytischen Menschen besonders ist. Er ist es, der erklärt werden muss – er ist die Anomalie der Geschichte. Die WEIRDen Menschen, also jene, die westlich, gebildet (educated), industrialisiert, wohlhabend und demokratisch sind, sind psychologisch besonders. Nicht jene, die anders sind als wir westlichen Menschen des 21. Jahrhunderts. Nicht jene, die sich hauptsächlich darüber definieren, welche Rollen sie in Beziehungen und insbesondere im Familiengefüge einnehmen, also vielleicht ob sie Vater oder Kind sind. Nicht jene, für die Gruppenzugehörigkeit das entscheidende ist.

Henrich nimmt den Leser mit auf eine Reise, in der die Kirche eine zentrale Rolle im Hervorbringen der WEIRD people spielt. Denn das Christentum war es, so Henrich, das mit seiner harten Linie gegen Inzest die Bedeutung von Verwandtschaft für das Leben der Menschen verringerte. Das führte dann zwangsweisezu mehr Austausch mit Fremden (Personen außerhalb der eigenen Sippe/Klans). Und damit gab es Anreize, sich als Individuum herauszustellen, um für andere einen Mehrwert zu bieten, wie auch ein stärkeres Vertrauen in der Gesellschaft zu entwickeln.

Auch wenn die historische Aufarbeitung im Buch möglicherweise Schwächen aufweist, kann Henrich eine überzeugende Erklärung liefern, wieso die westliche Zivilisation ihre besonderen Errungenschaften erreichen konnte: Arbeitsteilung, Märkte, Wettbewerb – und damit bahnbrechenden Wohlstand und Fortschritt. Eine Erklärung, die sich darüber hinaus hervorragend mit der Bedeutung der bürgerlichen Tugenden („bourgeois dignity“) von Deirdre McCloskey ergänzt. McCloskey betont als Grund für den unglaublichen Wohlstandszuwachs seit dem späten 18. Jahrhundert neue Ideen bzw. eine neue Kultur, die eben bürgerliche Tugenden förderte und forderte. Darüber mehr in unserem Interview mit ihr.

Joseph Henrich forscht an der Harvard University. Sein Buch The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous erschien 2020. Eine kürzere Version dieser Buchvorstellung erschien in unserem Print-Magazin.

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