Freiheit aushalten

von Martin Holzmann

In Wien gilt in den U-Bahnen seit einigen Wochen ein komplettes Essverbot. Dieses geht manchen aber nicht weit genug. Der Fahrgastbeirat der Wiener Linien fordert eine Ausweitung auf Busse und Straßenbahnen, kurzum auf alle öffentlichen Verkehrsmittel. Hauptargument der Verbotsbefürworter ist dabei, dass die Gerüche der Speisen andere Fahrgäste belästigen würden und deren Freiheit daher durch ein Verbot geschützt werden müsste. Dieser Schritt ist ein anschauliches Beispiel für die weit verbreitete und falsche Vorstellung, was eine “freie” Gesellschaft ist.
Die Freiheit des einen …
Gebetsmühlenartig wird der Stehsatz „die Freiheit des einen endet dort, wo sie die des anderen beeinträchtigt“ gepredigt. Dabei ist auffällig, dass ihn vor allem jene vortragen, denen die Freiheit der Menschen ein Dorn im Auge ist.
Tatsächlich sollte es in einer liberalen Gesellschaft eher so sein, dass die Freiheit eben dort erst anfängt. Wenn ich keinen anderen beeinträchtige ist es, zumindest für freiheitlich denkende Menschen, sonnenklar, dass hier keine Regularien von Nöten sind. Menschen sollten also frei entscheiden dürfen, ob sie Alkohol, Kautabak oder andere gesundheitsschädliche Stoffe konsumieren, da offensichtlich kein zweiter geschädigt wird. Allerdings gerät auch diese Sichtweise, unter dem Hinweis auf obiges Motto, zusehends ins Wanken. Schließlich schädigen ungesund lebende Menschen indirekt auch die Allgemeinheit, verursachen sie doch höhere Kosten in unserem Gesundheitssystem. Anstatt ein ungerechtes Gesundheitssystem zu hinterfragen wird an den Symptomen herumgedoktert und ein weiteres Verbot, eine Strafsteuer oder eine andere Einschränkung eingeführt. Die Freiheit fördert das keineswegs.
Am schwersten wiegt wohl, dass man mit diesem Prinzip quasi jede Freiheitsbeschränkung im Namen der Freiheit rechtfertigen kann. Denn man kann wirklich jede menschliche Handlung als Beeinträchtigung eines anderen werten. Es reicht für die Verbotsapostel vollkommen aus, einen unangenehmen Geruch in der Nase zu haben. Für die die es stört gibt es nun drei Wege: Entweder man ignoriert das Ganze, erträgt es und geht ihm aus dem Weg, oder man ruft nach einem Verbot. Der dritte Weg ist in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft für viele undenkbar: man geht zu seinem Gegenüber hin und bittet ihn höflich sein Verhalten zu unterlassen.
Das Problem bei der Verbotsruferei ist, dass wenn das jede Interessengruppe macht, wir bald in einem Land leben, in dem es vor Verboten nur so wimmelt, und das um paradoxerweise die Freiheit zu schützen. Das Prinzip „fight for peace is like fucking for virginity“ greift. Um die Freiheit vermeintlich zu schützen werden immer mehr und mehr Regeln erstellt, die in letzter Konsequenz eigentlich die Freiheit aller minimieren.
Was ist eine Einschränkung der Freiheit?
Dabei ist es unmöglich objektiv zu beurteilen welche Verhaltensweisen wirklich eine Belästigung für andere sindt. Für manche ist ein „übler“ Geruch bereits zu viel. Andere stoßen sich, im wahrsten Sinne des Wortes, an Dränglern bei der Rolltreppe. Musik, die nicht mit Kopfhörern gehört wird, oder das Telefonieren mit dem Handy gehören ebenso auf die Liste. Manche naiven Naturalisten bringen hier den Einwurf, dass klar messbar ist, wenn jemand körperlich beeinträchtigt wird, also etwa unter Passivrauch leidet. Es gibt also eine klare physikalische Handlung, die zu einem negativen Effekt beim „Opfer“ führt. Doch dieses Argument greift zu kurz. Selbst psychische „Angriffe“ haben klare Auswirkungen auf den betroffenen Menschen. Der dadurch entstehende Stress schlägt sich negativ auf die körperliche Verfassung nieder. Dieser Stress zeigt sich jedoch bei jeder Person unterschiedlich. Die Stressresistenz ist bei jedem unterschiedlich. Verschiedene Handlungen anderer Menschen haben unterschiedliche Wirkungen auf verschiedene Personen. Die Begrenzung kann also nicht bei klar körperlichen Beeinträchtigungen bleiben. Das Problem ist nur subjektiv zu erfassen und nicht objektiv klar umreißbar.
Alles kann als Belästigung empfunden werden
Auch psychische Einflussnahme ist bedenklich. Hate-Speech muss konsequenterweise verboten werden. Da sich manche Menschen bereits angegriffen fühlen, wenn man darauf hinweist, dass etwa Ausländer statistisch krimineller sind als andere Bürger müsste man auch derartige Meinungen verbieten, um die körperliche Unversehrtheit anderer zu schützen. Sicher gehen kann man hier nur, wenn man gleich generell menschliche Kommunikation verbietet. Die Beispiele sind bewusst absurd gewählt, aber sie sind schwer zu widerlegen. Es gibt ohne Frage Menschen, die beim Lesen solcher Meldungen mit den Tränen zu kämpfen haben und psychischen Stress verspüren. Dauerhafter Stress zeigt seine Wirkung aber früher oder später auch körperlich (erhöhter Blutdruck, Magenverstimmungen, usw.). Ergo ist der Bogen gespannt, von vermeintlicher psychischer Gewalt hin zu direkt spürbaren körperlichen Auswirkungen. Damit lässt sich endgültig jegliches Verbot rechtfertigen, fühlt sich doch von quasi jeder Handlung ein Mitmensch angegriffen oder neudeutsch „getriggert“.
Manche werden von Ekel erfüllt sein, wenn ihr Gegenüber in der Nase bohrt. Manche werden unter Stress leiden, wenn ein Mitmensch eine in ihren Augen unangebrachte Kleidung trägt, etwa einen Pullover einer rechten Marke oder das Trikot eines verhassten Fußballvereins. Jemand der beispielsweise in seiner Kindheit von einem Mann mit Schnurrbart missbraucht wurde, leidet vielleicht an einem Trauma und wird seither von Männern mit Schnurrbart getriggert. Kurzum: alles mögliche kann Menschen kränken, angreifen und zumindest mittelbar auch gesundheitlich beeinträchtigen.
Wie entkommen wir diesem Dilemma, wenn wir nicht in einem absoluten, also noch weiter, als ohnehin bereits, ausgebauten Kontrollstaat leben wollen?
Mehr Rückgrat als Lösung
Der Ausweg besteht darin, dass wir unangenehme Angewohnheiten unserer Mitbürger entweder aushalten, oder in besonders schweren Fällen, das Problem selbst lösen etwa indem wir uns bei einem Raucher am Nachbartisch ein anderes Lokal suchen, oder ihn freundlich ersuchen seinen Tabakkonsum doch eine Weile zu unterbrechen. Mehr Eigenverwantwortung ist angebracht. Selbstbestimmung heißt, dass man keinen Führer braucht, der einem anschafft wie man zu leben hat. Man trifft seine eigenen Entscheidungen, trägt die Konsequenzen davon und löst seine Probleme selbst. Wenn man hingegen nach Verboten der Obrigkeit ruft, muss man sich bewusst sein, dass dieses Recht auch alle anderen Menschen mit ihren eigentümlichen Gründen haben. Letztlich trägt man also durch den Ruf nach Regelungen der Politiker selbst dazu bei die Freiheit ein kleines Stück weit abzuschaffen. Man gibt die Verantwortung ab, man möchte ein Problem nicht selbst lösen, sondern dieses an eine höhere Instanz delegieren.
Wir brauchen mehr Standhaftigkeit und Souveränität um die kleinen Probleme des Alltags selbst lösen zu können. Nebst charakterlicher Stärke ist hier auch Allgemeinbildung von Vorteil. Ein differenzierter Blick auf die Welt führt zu mehr Gelassenheit und lässt den hysterischen Ruf nach einem Verbot für kleine Alltagsprobleme gar nicht erst keimen.
Das Credo muss also sein mehr aushalten zu können. Freiheit ist schwierig, Freiheit ist mitunter anstrengend, Freiheit bedeutet aber auch Weiterzudenken. Weiterzudenken heißt in dem Fall: ist das Problem wirklich so schwerwiegend, dass ich ein Verbot möchte? Und wenn ja – hat dann nicht auch jeder andere das Recht Verbote für jede noch so kleine Kleinigkeit die ihm groß erscheint zu fordern?
Mit jedem weiteren Verbot entfernen wir uns einen Schritt weiter weg von einer freien Gesellschaft.
Freiheitsfragen enden aber nicht da wo sie nicht mehr nur einen selbst betreffen, sie fangen dort erst so richtig an.

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