Totalitarismus im 20. Jahrhundert und dessen moralische Ursprünge

von Stefan Kosak

Wie konnte es zum Totalitarismus des 20. Jahrhunderts kommen? Stefan Kosak über den Niedergang des Liberalismus und die „moralische Inversion“ – ein Konzept des Denkers Michael Polanyi – als mögliche Erklärung dafür.

Das 20. Jahrhundert war von den Gräueltaten des Nationalsozialismus und der Gewaltherrschaft des Sowjetkommunismus geprägt. Auch im Rückblick erfüllt uns das unermessliche Leid, das diese totalitären Regime über die Welt gebracht haben, mit Schrecken. Zu den Ursachen dieser zerstörerischen Entwicklungen gibt es bereits unzählige Analysen. Anstoß für die beständige Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist dabei der unbedingte Wille, dass es zu solchen Geschehnissen nie wieder kommen darf. Aus diesem Grund bleibt die Frage nach den Ursachen für den Aufstieg der totalitären Herrschaftssysteme weiterhin aktuell.

In den Analysen zum Aufstieg der totalitären Regime stehen meist die politischen und ökonomischen Verhältnisse der damaligen Zeit im Vordergrund, die diese Entwicklung begünstigt haben. Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf die Überlegungen, die Michael Polanyi (1891-1976) zu dieser Thematik angestellt hat. Polanyi war ein renommierter Naturwissenschaftler, der den Aufstieg der totalitären Regime in seiner Zeit am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und bei Aufenthalten in der Sowjetunion unmittelbar miterlebt hat. Diese bewegenden Erfahrungen veranlassten Polanyi dazu, seine weitere wissenschaftliche Tätigkeit der Suche nach den tieferliegenden Ursachen für die politischen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts zu widmen.

Diese Auseinandersetzung führte Polanyi zu einer Erkenntnis, die sich von den etablierten Erklärungsansätzen unterscheidet: Nach Polanyi ist die Gewaltherrschaft der totalitären Regime das Resultat eines verhängnisvollen moralischen Zustands, in dem sich die meisten Gesellschaften seiner Zeit befunden haben. Um das zu verstehen, müssen wir mit Polanyi die Entwicklung dieses moralischen Zustands nachvollziehen. Polanyi identifiziert zwei Triebfedern dieser Entwicklung: einen hohen moralischer Anspruch auf der einen Seite und grundlegende Zweifel gegenüber den etablierten moralischen Idealen auf der anderen Seite. Ausgangspunkt für die verbreiteten Skepsis gegenüber der bestehenden Moral ist wiederum die Propagierung eines mechanistischen Weltbildes zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Pierre-Simon Laplace. Demnach sind alle weltlichen Vorgänge das Produkt eines Zusammenspiels von materiellen Dingen. Das gilt auch für unser menschliches Handeln: Welche Motive und Gründe wir auch immer für unser Handeln ersinnen – tatsächlich sind unsere Handlungen das Resultat von materiellen Vorgängen. Sofern sich diese Auffassung verfestigt, geraten hierdurch auch die moralischen Beweggründe unseres Handelns in Zweifel: Diejenigen, die moralische Handlungsgründe vorgeben, sind sich entweder über ihre eigentlichen Beweggründe im Unklaren oder versuchen hierdurch bewusst über ihre selbstbezogenen Interessen wie Profit oder Macht hinwegzutäuschen. Was als moralisches Handeln erscheint, ist in Wirklichkeit keine genuine Moral. Ein Beispiel ist der marxistische Vorwurf, die Bourgeoisie habe sich eine verlogene Moral geschaffen, die nur dazu dient, ihre Macht und ihren Wohlstand zu bewahren.

Neben dieser moralischen Krise charakterisiert ein weiteres Merkmal die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts: ein leidenschaftliches Verlangen nach moralischen Verbesserungen. Diesen moralischen Eifer führt Polanyi auf eine im Zuge der Aufklärung aufkommende Haltung zurück, die weitgreifende moralische Verbesserungen möglich erscheinen lässt. Das Streben nach moralischen Verbesserungen wird so zu einem vorherrschenden gesellschaftlichen Ziel, dem mit großem Eifer nachgegangen wird. Durch die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zieht sich somit eine Spannung: ein hoher moralischer Anspruch auf der einen Seite und ein ausgeprägter Skeptizismus gegenüber moralischen Idealen auf der anderen Seite. Nach Polanyi hat diese Spannung allerdings nicht zur Folge, dass der vorherrschende moralische Eifer zum Erliegen kommt. Die augenscheinlich widersprüchlichen Pole begünstigen sich vielmehr. So ist in der entlarvenden Einstellung gegenüber moralischen Auffassungen implizit der Glaube enthalten, dass sich eine gänzlich neue, unverdorbene Moral schaffen ließe, wenn man es denn nur wollte.

Wenn die bestehenden moralischen Ideale ihre Anziehungskraft verlieren, stellt sich allerdings die Frage, worauf sich der Eifer zur Errichtung einer neuen Moral richtet. Polanyi gibt diesbezüglich zu bedenken, dass in den Augen derer, die die etablierte moralische Praxis als heuchlerisch enttarnen, ein neues moralisches Ideal in den Blick gerät: Wenn die vorgebrachten moralischen Ideale lediglich über die Verfolgung von selbstbezogenen Interessen hinwegtäuschen, so erscheint gerade derjenige moralisch vorzugswürdig, der die scheinheilige moralische Praxis anderer entlarvt und seine eigenen selbstbezogenen Bestrebungen ohne Umschweife verfolgt – denn im Gegensatz zur unechten oder heuchlerischen moralischen Praxis ist die offene Verfolgung von selbstbezogenen Bestrebungen zumindest authentisch beziehungsweise aufrichtig. Die Ablehnung der bestehenden moralischen Ideale in Verbindung mit der ungenierten Verfolgung von selbstbezogenen Interessen wird dann zum neuen moralischen Ideal. Auf diese Weise kommt es zu einer grundlegenden Verkehrung der moralischen Orientierung. Angesichts dieser Konstellation spricht Polanyi von einer moralischen Umkehrung (moral inversion): Selbstbezogene und damit unmoralische Bestrebungen werden mit dem Anspruch der moralischen Überlegenheit verfolgt. Die rücksichtslose Verfolgung von selbstbezogenen Interessen wird zum Ausdruck der eigenen moralischen Rechtschaffenheit. Hiermit ist die eigentümliche moralische Haltung beschrieben, die den Zustand der Gesellschaften im 20. Jahrhundert bestimmt.

Diesen gesellschaftlichen Zustand sieht Polanyi nun als den entscheidenden Grund für den Aufstieg der totalitären Regime. Dieser Aufstieg vollzieht sich angesichts der Überzeugung vieler, dass der Wohlstand und sogar das Überleben der Nation nur auf Kosten anderer möglich ist, wenn die eigene Nation über wenige materielle Ressourcen verfügt. Die rücksichtslosen Bestrebungen der totalitären Regime, das materielle Wohl der eigenen Nation zu Lasten anderer zu befördern, erscheinen dann unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen moralischen Skeptizismus als logische Fortsetzung der verbreiteten moralischen Haltung. Die Regime setzen die selbstbezogenen Bestrebungen in eine politische Agenda um und verfolgen diese mit dem Anspruch der moralischen Überlegenheit. Das bedingungslose – und damit vermeintlich moralische – Streben nach exklusivem materiellen Wohlstand, in Verbindung mit einem überbordenden moralischen Eifer erklärt dann die Anziehungskraft und damit das Vernichtungspotenzial der totalitären Regime.

Welche grundlegenden Einsichten können wir aus Polanyis Analyse gewinnen? Polanyis Überlegungen führen uns vor Augen, dass Ideen und Theorien eine eigenständige Triebfeder für gesellschaftliche und politische Entwicklungen darstellen. Zwar können Ideen mitunter ein wirkungsloses Dasein fristen. Dies zeigt sich etwa am Beispiel von Großbritannien; hier hielt man trotz erklärter Zweifel an den moralischen Idealen dennoch an der bewährten Praxis fest. Dennoch sollten wir problematische Auffassungen nicht leichtfertig hinnehmen, da diese jederzeit zum Antriebsgrund des Handelns werden können. Dies gilt gerade dann, wenn weitere Faktoren, wie prekäre Lebensverhältnisse, das eigene Selbstverständnis erschüttern. Weiterhin machen Polanyis Ausführungen hinsichtlich der Frage nach den Ursachen für totalitäre Regime deutlich, dass das Erodieren von traditionellen gesellschaftlichen Idealen ein entscheidender Wegbereiter für totalitäre Bestrebungen ist. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass das Fortbestehen einer freien Gesellschaftsordnung durch die praktische Verfolgung von gesellschaftlichen Idealen und das aufrichtige Bekenntnis zu diesen Idealen gesichert wird. Mehrere Jahrzehnte nach Polanyis aufschlussreicher Analyse gilt es daher zu fragen, welche Ideen in der heutigen Zeit unsere Überzeugung in geteilte gesellschaftliche Ideale unterminieren.

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