Die Straßen von Budapest vermitteln an einem sonnigen Frühlingstag einen eigenartigen Eindruck: leere Straßen, geschlossene Restaurants und besorgte Blicke, die sich auf die seltenen Fußgänger richten, die an den geschlossenen Schaufenstern der Geschäfte vorbei gehen. Die unheimliche Stille wird nur durchbrochen durch die gelegentlichen Sirenen der Rettungsdienste und die leisen Stimmen, die hinter Gesichtsmasken zu vernehmen sind. Man kann die Angst in der Luft förmlich riechen: Es ist die Angst vor dem Virus, nicht die Angst vor einer drohenden Diktatur.
Die ungarische Hauptstadt ist am 30. März um Mitternacht in eine grundlegend neue Phase ihrer Geschichte eingetreten. An diesem Tag verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz – vom Präsidenten ohne Zögern unterzeichnet -, das den Ausnahmezustand ausrief und Ministerpräsident Viktor Orbán die Befugnis gibt, per Dekret auf unbegrenzte Zeit und ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren. Wie so oft bei historischen Ereignissen, gibt es keinen großen Knall und die Menschen vor Ort realisieren die Veränderung zunächst kaum.
Viktor Orbán ist eine talentierte Führungspersönlichkeit, der um die entscheidende Bedeutung des richtigen Timings weiß. In einer Zeit, in der die ganze Welt damit beschäftigt ist, die schlimmste Pandemie des letzten Jahrhunderts zu bekämpfen, in der die Unsicherheit und die Ängste so groß sind wie nie zuvor, wirken diese Maßnahmen wie das beherzte Eintreten eines starken Anführers für seine Bürger in diesen schweren Zeiten. Dass dieses politische Manöver das Land noch weiter auf einen autoritären Weg voranbringt, werden viele erst sehr viel später bemerken.
Alle Autokraten sind auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen, auch Orbán. Er hat ein feines Gespür für die öffentliche Meinung und tut alles, um sie nach seinen eigenen Erfordernissen zu gestalten. Die Ängste rund um das Virus boten ihm die goldene Gelegenheit, seinen Zugriff auf die Macht zu stärken und seinen Einflussbereich ohne größere öffentliche Gegenwehr zu erweitern.
Nach Angaben eines regierungsnahen Meinungsforschungsinstituts unterstützen 90% der Ungarn die außerordentlichen Maßnahmen der Regierung. Selbst ungeschönte Umfragen würden eine hohe Zustimmung anzeigen, da Orbán während seiner ein Jahrzehnt dauernden Amtszeit als Premierminister die Medienlandschaft effektiv übernommen hat. Die Unterstützung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, ist ein Eckpfeiler seiner Machtpolitik. Orbán beeinflusst indirekt über ihm nahestende Oligarchen, deren Existenz direkt von ihm abhängt, 150 Zeitungen, große Fernseh- und Radiosender und Online-Verkaufsstellen.
Die vielsagende Geschichte seines langjährigen Freundes Lajos Simicska, der von einem Tag auf den anderen alles verloren hatte, nachdem er sich mit Orbán überworfen hatte, dient als Warnung für alle, die die Autorität des Premierministers in Frage stellen. Die Botschaft ist klar: Deine Macht, Dein Reichtum und Dein Lebensstil hängen von einem einzigen Mann ab – und die Privilegien können Dir genauso leicht wieder entzogen werden, wie sie Dir gegeben wurden.
Dieses autoritäre Gebaren hat bisher nur wenige Menschen getroffen: Unternehmer, die nicht in der Gunst des Anführers stehen; Akademiker und Künstler, die die Autorität der Regierung in Frage stellen; und Beamte und Angestellte von staatlichen und oligarchischen Unternehmen, denen deutlich nahegelegt wurde, sich gefälligst aus politischen Angelegenheiten herauszuhalten. In einer milden Autokratie kennt jeder seinen Platz. Und wenn es nicht so schlimm wird, dass man bereit ist, seine Existenz um eines höheren Gutes Willen aufs Spiel zu setzen, laufen die meisten Menschen einfach mit und versuchen, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen. Doch Autokratien haben die Eigenschaft, ihren Machtbereich ständig auszudehnen. Und so werden am Ende alle davon betroffen werden, auch wenn einige hoffen, dass sie durchs Netz schlüpfen können.
Die Notstandsgesetze wurden angenommen, die Unterstützung für die Regierung Orbán ist auf einem Höchststand, und die EU hat Ungarn in einer Pressemitteilung, in der auf die Notwendigkeit von Rechtsstaatlichkeit hingewiesen wurde, nicht einmal beim Namen genannt. Was bedeutet das für das Land?
Wenn die Ungarn Glück haben, hat Orbán die außerordentlichen Befugnisse nur eingeführt, um seine Beliebtheit in der Bevölkerung auszubauen. In den letzten zwei Wochen ging es in den Medien des Landes nur darum, dass die ungarische Opposition „auf der Seite des Virus“ stehe, während die Regierung alles tue, um Leben zu retten. Dabei werde sie jedoch von der internationalen Gemeinschaft behindert, die sich dabei der Opposition als Vorwand bediene. Es ist ein gewiefter Schachzug, dass Orbán die Opposition in eine Situation gebracht hat, in der sie entweder „auf der Seite des Virus steht“ und gegen die Notfallmaßnahmen stimmt oder die Maßnahmen billigt, ohne die Aussicht oder gar die Zusicherung, dass sie jemals beendet werden. Falls Orbán irgendwann einmal wieder auf einige der Befugnisse verzichten sollte, könnte er sich als der Retter der Nation ausgeben, der gegen das Virus gekämpft hat, obwohl sich ihm internationale Institutionen in den Weg stellten und eine Opposition, die nur ihre Schäfchen ins Trockene bringen wollte. Doch im Blick auf die letzten zehn Jahre Orbáns gibt es wenig Grund für eine solche optimistische Sichtweise. Es zeichnen sich bereits neue dunkle Wolken am Horizont ab.
Nachdem das von der Opposition regierte Budapest von dem aus der Stadt stammenden George Soros eine Million Euro zur Bekämpfung der Pandemie erhalten hatte, brachte die ungarische Regierung einen neuen Gesetzentwurf ein, der Bürgermeistern die Kompetenz entzog, als erster auf Katastrophenfälle zu reagieren. Diese weitere Zentralisierung der Macht stellt sicher, dass die Handvoll von der Opposition geführten Städte und Gemeinden ihre Bürger nicht besser versorgen können als der Rest des Landes. In weniger als 24 Stunden machte die Regierung eine ungewöhnliche Kehrtwende und zog Teile des Gesetzes zurück – zumindest vorerst.
Der gleiche Gesetzentwurf umfasste auch eine Reihe von Regelungen, die mit der Bedrohung durch das Virus gar nichts zu tun haben: Etwa das Verbot von Geschlechtsumwandlungen. Oder der Beschluss, in einem öffentlichen Park in Budapest ein Museum zu bauen, wodurch die dortige Stadtregierung ebenso umgangen wurde wie die Bewohner der Stadt, die sich dem Projekt deutlich widersetzt hatten. Mit dieser Taktik versucht die Regierung schon seit vielen Jahren, ihre Maßnahmen aufzuhübschen und den Wählern schmackhaft zu machen: Indem scheinbar irrelevante Themen mit grundlegenden Gesetzesänderungen verknüpft werden, kann die Regierung abweichende Stimmen als Radikale darstellen, die Positionen vertreten, die kein normaler Ungar einnehmen würde.
Die Regierung setzt nun auch das Militär ein, um „nationale Anstrengungen in 84 strategischen Unternehmen“ durchzuführen. Dazu gehören Unternehmen wie Tesco, T-Com, Versorgungs- und Pharmakonzerne. Die Regierung ließ durchblicken, dass es auf ihrer Liste weitere 60 Unternehmen gibt. Sie wird die Namen aber erst dann bekanntgeben, wenn die Soldaten tatsächlich eingetroffen sein werden.
Die politische Situation des Landes ist wahrlich düster. Doch die Bevölkerung fühlt vor allem die Beeinträchtigung des Lebens durch das Virus – nicht durch die politischen Manöver, die derzeit stattfinden. Die Frühlingssonne wird morgen aufgehen, die Ängste der Ungarn werden nicht verschwinden, und auch Orbáns Fähigkeit, die Krise zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen, wird nicht verschwinden. Doch die freiheitsliebenden Ungarn werden zwei Schlachten gleichzeitig zu schlagen haben: eine gegen das Virus und eine gegen den Autokraten. Beide werden nicht leicht zu gewinnen sein.
Übersetzt aus dem Englischen von Clemens Schneider.
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Frühlingsgefühle beim Autokraten in Budapest
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