Homo oeconomicus: Totgesagte leben länger

von Vincent Czyrnik

In den Wirtschaftswissenschaften tobt seit Jahren ein Kampf: Auf der einen Seite stehen die Neoklassiker mit ihrem Homo oeconomicus und behaupten, Menschen handeln rational. Auf der Gegenseite stehen einige Verhaltensökonomen und entgegnen, wir Menschen verhalten uns häufig irrational. Bei diesem Kampf gibt es viel Unklarheiten darüber, was überhaupt rational bedeutet und was mit dem Homo oeconomicus gemeint ist. Doch brauchen wir Klarheit und Verständnis über diese Dinge, weil es hierbei um nichts weniger geht als darum, wie die Wissenschaften uns Menschen verstehen und daher auch, welche Handlungsempfehlungen an die Politik weitergegeben werden.

Allein schon über den Begriff rational streiten sich die Geister. Ist es rational, nach viel Geld zu streben? Für einige schon, schließlich ist gegen ein Leben in Saus und Braus wenig einzuwenden. Oder doch? Was ist mit Menschen, die mit Reichtum etwas Negatives verbinden? Der ein oder andere denkt bei viel Geld vielleicht an einen gierigen Mann, der andere für seinen Wohlstand ausbeutet. Mit dem möchte man ja nichts zu tun haben. Für jene Menschen, die Reichtum so betrachten, ist es rational zumindest nicht zu viel Geld zu besitzen.

Es kann rational sein, sich ausgewogen zu ernähren; aber ebenso kann es rational sein, sich mit Junkfood vollzustopfen. Wer langfristig denkt und auch im Alter noch fit sein möchte, der sollte wahrscheinlich nur gelegentlich Junkfood essen. Wem seine Gesundheit im Alter egal ist oder wer sich nicht die Mühe machen möchte, darüber nachzudenken, der findet in Chips, Fastfood & Co. seinen Genuss.

Schaut man in den Duden, findet man dort zum Wort rational Erklärungen wie von der Vernunft geleitete Entscheidungen beziehungsweise dass diese auf Logik beruhen. Und zu allem Überfluss: Auch über Begriffe wie Logik oder Vernunft lässt sich streiten. Wir verbinden einen vernünftigen Lebensstil zwar meist mit einer gesunden Ernährung und Sparsamkeit, aber es kann auch Gegenteiliges vernünftig sein: Man stelle sich vor, ein Mensch erhält die schreckliche Diagnose, er habe nur noch ein Jahr zu leben. Ist es für einen solchen Menschen nicht gar vernünftig, all sein Geld zu verpulvern und alles zu essen, auf was er Bock hat? Glück und Zufriedenheit sind letztlich subjektiv. Um damit ist es auch subjektiv, was vernünftig ist und was nicht.

Raus aus dem Wirrwarr

Um diesen Verwirrungen zu entkommen, haben Ökonomen vor geraumer Zeit ein Modell entwickelt: Den Homo oeconomicus. Dieser hat Präferenzen – was bedeuten kann, dass wir beispielsweise lieber Vanilleeis als Schokoladeneis essen. Das schließt auch ein, dass wir ab und zu mal mehr Lust auf Schokoladeneis haben. Das liegt daran, dass wir Menschen oft unterschiedlich gestimmt sind, abhängig davon, ob wir beispielsweise letztens erst das eine oder andere Eis gegessen haben.

Egal für welches Eis wir uns entscheiden, jenes Eis bringt uns einen gewissen Nutzen. Und um das Modell des Homo oeconomicus abzurunden: Unseren Nutzen versuchen wir stets zu maximieren. Und das unter den gegebenen Umständen, also abhängig davon, welche Eissorten überhaupt verfügbar sind – so könnte unsere Lieblingssorte auch schon ausverkauft sein. Dann ist möglich, dass wir uns für ein anderes Eis entscheiden oder – aus Enttäuschung –  gar kein Eis nehmen. Und das hängt davon ab, was uns in der vorliegenden Situation voraussichtlich den größten Nutzen bereitet.

Kritik am Homo oeconomicus

Es gibt aber auch viel Kritik am Homo oeconomicus. Das ist darauf zurückzuführen, dass er – im Jargon der Ökonomen – als “perfekt rational” gilt, vollständige Information über die Vergangenheit und Zukunft besitze, und auf Grundlage dieser Informationen seine Entscheidungen treffe. Der Nobelpreisträger und Verhaltensökonom Richard Thaler fand dazu folgende zynische Bemerkung: „In den Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften lernt man, der Homo oeconomicus kann Denken wie Albert Einstein, hat Speicherplatz wie IBMs Big Blue [ein Supercomputer] und die Willenskraft von Mahatma Gandhi“, wobei wir Menschen häufig daran scheitern, unsere Schlüssel wiederzufinden.

In den vergangenen Jahrzehnten gab es zahlreiche Studien aus dem Bereich der Verhaltensökonomik, die zeigten, dass Menschen häufig weit entfernt von “perfekt rational” sind. Große Bekanntheit erlangten die Studien von Daniel Kahneman und Amos Tversky. Im Buch Schnelles Denken, langsames Denken werden einige solcher verblüffender Ergebnisse zusammengefasst. Statt möglichst rationale Entscheidungen zu treffen, verwenden wir Menschen Heuristiken, die nichts anderes sind als Daumenregel. Diese machen das Nachdenken weniger mühsam und beschleunigen unsere Entscheidungen. Der Nachteil: Durch die Abkürzungen ergeben sich auch die einen oder anderen Fehler. Bekannte Heuristiken sind beispielsweise: 

  • Der Framingeffekt: Wir sind schwer erkrankt und müssen zwischen Medikament A mit 90 Prozent Heilungschancen und Medikament B mit 10 Prozent Sterblichkeitsrate wählen. Denkt man kurz darüber nach, sollte klar sein: Beide Medikamente haben die gleiche Wirksamkeit. Doch lassen sich Menschen von den unterschiedlichen Prozentzahlen und den Framing „heilen“ bzw. „sterben“ verunsichern. 
  • Die Heuristik der versunkenen Kosten: Haben wir einmal viel Geld oder Mühe in eine Sache gesteckt, so fällt es uns schwer, diese aufzugeben – auch wenn uns diese Sache am Ende noch mehr Geld und Mühe kostet, als einfach ein neues Projekt anzufangen.
  • Der Spielerfehlschluss: Wenn beim Roulette eine Kugel in einem roten Fach landet, so glauben einige, dass es im folgenden Zug wahrscheinlicher ist, dass die Kugel auf Schwarz fällt. Tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit aber bei jedem Zug 50 Prozent für je Schwarz und Rot und das unabhängig davon, wie der vorherige Zug ausgegangen ist. 
  • Die Heuristik der Verfügbarkeit: Nachdem 2001 zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme in New York krachten, bekamen viele Menschen Angst vor dem Fliegen. Das hatte teilweise fatale Folgen: Mehr Menschen wählten für längere Reisen das Auto statt zu fliegen – dabei ist Autofahren im Vergleich zum Fliegen deutlich gefährlicher. Doch waren die Bilder des Terroranschlags “verfügbarer” im Kopf statt einer der vielen Autounfälle, die täglich passieren.

Zur Rettung des Homo Oeconomicus 

In manchen Fällen verhalten wir Menschen uns nicht wie der Homo oeconomicus. Oder gar in allen? Einige Verhaltensökonomen haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Homo oeconomicus zu falsifizieren – ihn also mithilfe ihrer Studien zu widerlegen. Was aber häufig missverstanden wird: Der Homo oeconomicus hat gar nicht den Anspruch, die Realität zu 100 Prozent abzubilden. Er ist vielmehr eine theoretisches Konstrukt, ein Idealtyp, der weder vollkommenen Realismus bedarf noch diesen anstrebt.

Der Homo oeconomicus gewinnt seine Kraft durch seine Einfachheit, die darauf abzielt, ganz grundlegend menschliches Verhalten zu analysieren und im besten Fall sogar vorherzusagen. Wir Menschen verhalten uns häufig sehr ökonomisch – sind also auf unseren Vorteil bedacht und versuchen unsere Entscheidung aus der Vernunft abzuleiten. In diesen Fällen sind die Annahmen des Homo Oeconomicus hilfreich und wahr. So ergeben sich (für einige) erstaunliche Erkenntnisse: 

All diese ökonomischen Zusammenhänge konnten auch durch die zahlreichen verhaltensökonomischen Studien nicht widerlegt werden, im Gegenteil. Sie sind bitter wahr. 

Optimal statt perfekt rational

Doch was sind wir nun: rational oder eher irrational? Die Antwort des Ökonomen Richard McKenzie lautet: Wir sind optimal rational. 

Perfekte Rationalität würde für uns Menschen bedeuten, dass wir endlos abwägen, Informationen sammeln und wir nie zu einer wirksamen Entscheidungen kommen würden. Unser Gehirn wäre mit dieser Art der Rationalität schlichtweg überfordert – und wir würden beim Versuch, sie zu erreichen, vermutlich verhungern. 

Stattdessen haben wir Menschen gelernt, Entscheidungen schneller zu treffen. Dazu verwenden wir mentale Abkürzungen, die die Verhaltensökonomen à la Kahneman dann Heuristiken beziehungsweise Daumenregeln nennen. Diese sparen sehr viel mentale Ressourcen und wir gewinnen Raum, um über wirklich relevante Dinge nachzudenken – oder einfach nur zu dösen. 

Wenn also Verhaltensökonomen mit ihren Studien “beweisen” wie irrational wir manchmal sind, so zeigen sie nur, dass wir sehr rational auswählen, in welchen Bereichen wir irrational sind. Wir sind in gewissem Sinne rational irrational. Im Endeffekt steckt in uns allen also ein Homo oeconomicus.

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